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Verband bayerischer Bezirke: Prof. Freisleder zur Kinder- und Jugendpsychiatrie – „Die Alarmglocken läuten früher“

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Ein insgesamt positives Fazit zieht Professor Dr. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher Klinik in München, über die momentane Situation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Freistaat:

„Alle sieben Bezirke haben in den vergangenen Jahren ihr Angebot hier weiter ausgebaut.“

Denn der Bedarf an einer stationären, teilstationären oder ambulanten Versorgung sei in den vergangenen Jahren nachhaltig gewachsen. Dies belegen die aktuellen Zahlen. Waren es 1997 noch ca. 350 Patienten, die das Heckscher Klinikum stationär versorgte, lag deren Zahl in 2012 schon bei rund 1000 Patienten.

Auch die ambulante Versorgung ist in diesem Zeitraum drastisch angestiegen.

„Pro Jahr kommen etwa 12.000 Kinder- und Jugendliche zu uns“, so Freisleder.

Ziel des Klinikums sei es, die Betroffenen so rasch wie möglich zu untersuchen und zu diagnostizieren. Wartezeiten sollten so kurz wie möglich sein.

„Allerdings muss man auch eine Verschiebung der Aufnahmen sehen. Vor 15 Jahren waren Zweidrittel aller Aufnahmen geplant. Heute sind etwa 75 bis 85 Prozent aller Aufnahmen sogenannte Notaufnahmen, also nicht geplant“, berichtet der Ärztliche Direktor.

Gerade an Wochenenden sei diese Entwicklung spürbar. Teilweise würden bis zu 25 Kinder und Jugendliche als „Notfälle“ vorgestellt, bis zu acht der Patienten würden auch stationär aufgenommen.

„Unser Anspruch ist es, 365 Tage im Jahr rund um die Uhr geöffnet zu haben. Natürlich wird dieses Angebot rege genutzt, und das ist gut so. Wir nehmen jedes Kind, jeden Jugendlichen und seine Eltern sehr ernst“, betont Freisleder.

Jeder Patient werde individuell diagnostiziert und behandelt. „Das ist uns sehr wichtig“. Dabei verfolgt Professor Freisleder auch die öffentliche Diskussion über die angebliche Zunahme der psychiatrischen Erkrankungen bei Kinder- und Jugendlichen kritisch.

„In den vergangenen Jahren verzeichnen die Krankenkassen eine deutliche Steigerung der psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen. Aus meiner Sicht ist es aber unerlässlich, die Diskussion hier betont sachlich und angemessen zu führen“, so der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Gesellschaftliche Veränderungen spüre auch das Heckscher Klinikum, denn in der Diagnostik würde auch das soziale und familiäre Umfeld der Patienten einfließen.

„Positiv sehe ich, dass inzwischen die Alarmglocken bei Eltern, Lehrern und dem gesamten sozialen Umfeld früher zu läuten beginnen. Dadurch werden uns die Kinder- und Jugendlichen früher vorgestellt, und wir können eher mit ihnen arbeiten. Zudem werden niederschwellige Angebote, wie zum Beispiel unsere Ambulanz, gut angenommen. Dadurch steigt die Zahl der behandelten Patienten allerdings deutlich“ hebe Freisleder hervor.

Auffällig sei, dass immer mehr Heranwachsende nicht nur eine Erkrankung haben, sondern meist mehrere: Mädchen leiden zum Beispiel unter Magersucht und gleichzeitig auch an einer Depression. Diese sogenannte Komorbidität erfordere eine exakte Diagnostik. Die häufigsten Erkrankungen seien Störungen des Sozialverhaltens (Aggression, Schulverweigerung oder Essstörungen), aber zunehmend auch unterschiedliche Suchtformen. Wichtig werde künftig eine noch engere Abstimmung mit der Erwachsenenpsychiatrie sein.

„Den Übergang der Kinder- und Jugendlichen in das Erwachsenenalter müssen wir begleiten, sowohl von unserer Seite, als auch von den Einrichtungen der Erwachsenenpsychiatrie her. Denn in den vergangenen Jahren sind gemeinsame Projekte begonnen worden. Im Salzach-Klinikum wird zum Beispiel noch in diesem Jahr eine spezielle „Adoleszenzstation“ eröffnet. Es ist ein Modellprojekt, von dem wir uns viel versprechen“, macht Freisleder klar.

Verband der bayerischen Bezirke, PM v. 19.04.2013

Kommentar von Ulrich Lechleitner (Verband der bayerischen Bezirke):

Professor Franz Joseph Freisleder gilt aus guten Gründen als einer der renommiertesten Fachleute im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Besonnen und ohne jeden Anflug einer überzogen dramatischen Darstellung der aktuellen Lage hat er jetzt deutlich gemacht, dass es einen unübersehbaren Anstieg bei der Zahl der Erkrankungen junger Menschen gibt. Wenn 12.000 Heranwachsende im Jahr die ambulante Versorgung allein im Heckscher Klinikum in München aufsuchen und etwa 1.000 Patienten dort einer stationären Unterbringung bedürfen, ist dies aber zweifellos ein Alarmzeichen! Vor allem die Zahl der individuellen Doppelerkrankungen, wenn Jugendliche gleichzeitig an einer Depression und einer spezifischen Sucht leiden, muss auch die Bezirke und ihre Fach-Einrichtungen aufhorchen lassen.

Freisleder vermeidet hier bewusst einseitige Erklärungsmuster. Die Ursachen für die Zunahme der Fallzahlen liegen nicht nur im familiären oder schulischen Umfeld. Vielmehr sind sie in der Regel auf unterschiedliche Einflüsse zurückzuführen, denen junge Menschen ausgesetzt sind. Die digitale Welt, in ihrer oft oberflächlichen Schnelllebigkeit, ein überzeichnetes Leistungsdenken, dem Kinder leider auch in den Familien zunehmend ausgesetzt sind, sowie gruppendynamische Prozesse unter Gleichaltrigen spielen eine ebenso gewichtige Rolle.

Es spricht für die hohe fachliche Kompetenz von Professor Freisleder und seinen medizinischen und therapeutischen Mitarbeitern, dass sie im klinischen wie ambulanten Alltag keine schnellen Antworten, geschweige denn Lösungen, auf komplizierte Fragen geben. Wenn der Ärztliche Direktor der Heckscher Klinik betont, dass es in der Therapie vor allem darum gehe, den Übergang der Kinder und Jugendlichen in das Erwachsenenalter behutsam zu begleiten, ist dies möglicherweise oft mehr wert als manches verhaltenstherapeutische oder medikamentöse Angebot. Mit dem Heckscher Klinikum steht – neben anderen ebenso bewährten Facheinrichtungen in anderen Bezirken – ein Haus zur Verfügung, dass sich seinen weit über Bayern hinaus guten Ruf, täglich neu erarbeitet. Dass nun noch in diesem Jahr im benachbarten Salzach-Klinikum eine spezielle „Adoleszenz-Station“ eröffnet wird, ist dabei ein weiterer begrüßenswerter Mosaikstein für die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Freistaat.

Verband der bayerischen Bezirke, PM v. 19.04.2013