Gesetzgebung

Positionspapier des Bayerischen Richtervereins e.V. zu elektronischem Rechtsverkehr und elektronischer Akte

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Logo_BRVMit dem „Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“ wird zum 01.01.2018, spätestens aber ab 01.01.2022, der Zugang zu den Gerichten für die Anwaltschaft auf elektronischen Weg vorgeschrieben. Dies hat zur Folge, dass auf der gerichtlichen Seite eine Möglichkeit zur Verarbeitung dieser Eingänge bereitgestellt werden muss. Soll ein Übergangsbetrieb mit Medienbrüchen, der die Servicebereiche der Gerichte und Staatsanwaltschaften zum Kollabieren bringen würde, vermieden werden, muss eine elektronische Akte eingeführt werden. Für diese sind rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Des Weiteren ist die Beachtung funktionaler und ergonomischer Anforderungen unverzichtbar.

1. Rechtliche Rahmenbedingungen

Erfordernis gesetzlicher Regeln zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit

Schon jetzt ist die richterliche Unabhängigkeit als Folge der Einführung eines zentral administrierten EDV-Netzes und der Einführung der Fachverfahren gefährdet. Verschärft wird diese Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit durch die Einführung einer elektronischen Akte. Die elektronischen Akten der bayerischen Gerichte werden nicht mehr wie bisher von diesen verwahrt und kontrolliert, sondern auf Servern in den von der Exekutive betriebenen Rechenzentren des Bayerischen Landesamts für Steuern gespeichert. Insbesondere für die Fachgerichtsbarkeiten wie Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit bedeutet dies im Ergebnis, dass die Gerichtsakten vom Prozessgegner verwahrt werden. Hinzu kommt, dass es in einem zentralen EDV-Netz Administratoren mit dem sogenannten Masterpasswort durch wenige Befehle und innerhalb kürzester Zeit möglich ist, Dokumente einzusehen, Informationen über deren Entstehungsprozess aufzuzeichnen (Meta-Ebene) sowie Dokumente zu kopieren und an Dritte weiterzuleiten. Derartige Administratoren sind nicht nur an der am Oberlandesgericht München eingerichteten Gemeinsamen IT-Stelle der Bayerischen Justiz (GIT) tätig, sondern auch in den von der Exekutive betriebenen Rechenzentren und sogar bei Privatunternehmen, den Firmen Unisys und IBM, beides Töchter US-amerikanischer Unternehmen. Anders als bei von Richtern erstellten und in Diensträumen verwahrten Schriftstücken mit Vermerken, Entwürfen und Ähnlichem ist bei in einem Netz abgelegten Dateien leicht eine systematische Suche möglich. Die zu bestimmten Verfahren von Richtern oder in ihrem Auftrag von Mitarbeitern angefertigten Dokumente werden nämlich, um wieder auffindbar zu sein, in aller Regel nach den betreffenden Aktenzeichen im Netz gespeichert. Das ist auch bei den Dokumenten der Fall, die, wie etwa die Voten zur Vorbereitung der Beratung von Kollegialgerichten, dem Beratungsgeheimnis des § 43 Deutsches Richtergesetz (DRiG) unterliegen. Die Sachbehandlung oder vorläufige Würdigung eines den Dienstherrn des Richters betreffenden Rechtsstreits – etwa auf den Gebieten der Staatshaftung oder der Finanzgerichtsbarkeit – oder eines Verfahrens, das Mitarbeiter der Exekutive privat betrifft, könnte ebenfalls von der Dienstaufsicht als Teil der Exekutive gezielt angesteuert werden (vgl. Hessischer Dienstgerichtshof, U. v. 22.04.2010, Az.: DGH 4/08). Hinzu kommt, dass anhand der sogenannten log-Dateien Informationen über die Benutzung des EDV-Netzes (Zeiten der An- und Abmeldung) sowie aufgrund der Meta-Informationen von Dokumentdateien (Person des Erstellers, und Bearbeitungsdaten) solche über die Zeiten der Bearbeitung eines bestimmten Verfahrens mit geringem Aufwand ermittelt werden können. Die dargestellte Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit betrifft einen völlig anderen Problemkreis als das Schutzbedürfnis der Richter in allgemeinen sozialen Fragen. Der Regelungsbereich der dort normierten Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte nach den Art. 17 Bayerisches Richtergesetz (BayRiG), Art. 75 a Abs. 1, Art. 76 Abs. 2 Nrn. 1 – 3 Bayerisches Personalvertretungsgesetz (BayPVG) erfasst die Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit nicht. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit im EDV-Betrieb kann deshalb nicht Gegenstand einer Dienstvereinbarung sein, Art. 73 Abs. 1 BayPVG. Eine gesetzliche Regelung zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit im Zusammenhang mit dem Betrieb zentral administrierter EDV-Netze besteht in Bayern nicht. Eine solche ist bislang offenbar auch nicht im Zusammenhang mit der Einführung der elektronischen Akte geplant. Der Bayerische Richterverein e.V. fordert deshalb gesetzliche Regelungen zum Schutz des Beratungsgeheimnisses und der richterlichen Unabhängigkeit im Zusammenhang mit dem Betrieb zentral administrierter EDV-Netze. Dies nicht zur Verteidigung von Privilegien, sondern um dem verfassungsrechtlich übertragenen Justizgewährleistungsauftrag nachkommen zu können. Überdies haben die Verfahrensbeteiligten einen Anspruch auf bestmöglichen Schutz der Daten, die sie in gerichtlichen Verfahren offenbaren müssen.

Diese Regelungen müssen die folgenden Mindeststandards enthalten:

  • Die Fachaufsicht liegt, soweit ein zentraler Dienstleister Aufgaben für den Geschäftsbereich des Justizministeriums wahrnimmt, beim Justizminister. Dieser muss über eine ausreichende Einwirkungs- und Gestaltungsmacht verfügen, um selbst die Schutz- und Kontrollstandards für den Datenschutz und die Datensicherheit zu bestimmen, die in Bezug auf richterliche Dokumente und sonstige Daten, die unter die richterliche Unabhängigkeit fallen, geboten sind.
  • Die Fachaufsicht hinsichtlich der Verfahrensdaten liegt bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften.
  • Über die Fachaufsicht hinaus muss die Leitung und die Aufsicht über die Tätigkeit zentraler Dienstleister so ausgestaltet sein, dass die von den Richtern oder in ihrem Auftrag von Bediensteten erstellten Dokumente gegen unbefugte Einsicht und Weitergabe ausreichend geschützt sind. Dies umfasst u.a.:
    • Die namentliche Festlegung der berechtigten Inhaber des Masterpassworts und die Regelung der Bedingungen einer etwaigen Weitergabe. Im Fall einer unbefugten Weitergabe ist eine Information der Richterschaft oder der örtlichen Administratoren sowie ein Verfahren zur Änderung des Masterpassworts vorzusehen.
    • Die Festlegung verbindlicher konkreter Regeln über den Umgang mit richterlichen Dokumenten durch die Administratoren des EDV-Netzes dergestalt, dass auf richterliche Dokumente (Protokolle, Ladungen, Voten, Hinweise, Entwürfe usw.) inhaltlich nur Zugriff genommen werden darf, wenn dies für das EDV-Netz betriebsnotwendig ist. Ein deswegen notwendiger Zugriff ist dem Justizministerium und von diesem dem betroffenen Richter anzukündigen. Ist dies ausnahmsweise nicht möglich, hat eine unverzügliche nachträgliche Mitteilung zu erfolgen.
    • Richterliche Dokumente dürfen weder an das Justizministerium als Dienstaufsichtsbehörde noch an sonstige Dritte weitergegeben werden.
    • In gleicher Weise ist eine Speicherung oder Weitergabe von Metadaten über richterliche Dokumente (Zeit ihrer Erstellung, Autor usw.) nicht zulässig. Ausnahmen können nur bei einem konkreten Verdacht des Missbrauchs des Netzes zu dienstfremden Zwecken zugelassen werden.
    • Die Einhaltung der Regelungen durch die Administratoren des EDV-Netzes ist durch eine regelmäßige Geschäftsprüfung durch das Justizministerium unter gleichberechtigter Mitwirkung von gewählten Vertretern der Richterschaft zu überwachen. Dabei ist Letzteren ein uneingeschränktes Auskunfts- und Einsichtsrecht zu gewähren.

2. Anforderungen an Funktionalität und Ergonomie

2.1 Anforderungen an die Funktionalität

2.1.1 Hochverfügbarkeit
  • Mit der Einführung einer elektronischen Akte ist die Abhängigkeit von der Verfügbarkeit des Netzes und der Fachanwendungen total.
  • Deshalb ist die Stabilität des Gesamtsystems erheblich zu steigern.
  • Jedes Einspielen von Updates und jede sonstige Veränderung muss davon abhängig gemacht werden, dass beim Auftreten von Fehlern innerhalb kürzester Zeit eine Rückkehr zum letzten funktionierenden Systemzustand gewährleistet ist.
2.1.2 Kompatibilität

2.1.2.1 Ein Verfahren muss bundesweit auch an Fachgerichte abgegeben und übernommen werden können. 2.1.2.2 Der Datenaustausch mit Staatsanwaltschaft, Polizei, Finanzbehörden, Zoll und anderen Verwaltungsbehörden muss ohne Medienbruch möglich sein.

2.1.3 Datenschutz
  • Es muss ein umfassendes Datenschutzkonzept erstellt werden und größtmöglicher Schutz der Daten nach innen wie außen gewährleistet sein.
  • Es muss möglich sein, bestimmte Verfahren (z.B. aus dem OK- oder Staatsschutzbereich) besonders zu schützen.
2.1.4 Barrierefreiheit

Die Barrierefreiheit muss durchgängig gewährleistet sein.

2.1.5 Keine e-Akte auf Kosten der Fachanwendungen

Die Entwicklung der e-Akte darf nicht dazu führen, dass notwendige Verbesserungen und Weiterentwicklungen der bestehenden Fachanwendungen unterbleiben.

2.1.6 Flexibilität der e-Akte
  • Die e-Akte muss aus einer unveränderbaren Originalakte und einer bearbeitbaren Handakte bestehen.
  • Eine pdf-Datei zum Durchscrollen mit dem Mausrad ist ungeeignet.
2.1.7 Anpassung der e-Akte an die richterliche Arbeitsweise – nicht umgekehrt
  • Die e-Akte ist so zu konzipieren, dass sie der richterlichen Arbeitsweise gerecht wird und diese unterstützt.
  • Die e-Akte ist im Servicebereich zu führen.
  • Die e-Akte darf dem Richter keinen festen Arbeitstakt im Sinne eines Workflows aufzwingen.
  • Sie muss richterspezifische Funktionen anbieten wie etwa einfaches Anbringen von anwenderbezogenen Lesezeichen, Markierungen und Anmerkungen. Es muss möglich sein, die Akte zu „zerlegen“ und Aktenteile einander gegenüberzustellen. Dies bedingt eine Bildschirmgröße, die wenigstens 2 DIN A 4 Seiten darstellen kann. Ferner sollen Passagen mit Metadaten kopiert und in Übersichten und Tabellen aus Aktenteilen („Renner“) eingefügt werden können.
2.1.8 Mobilität

Die e-Akte muss gleichermaßen am Arbeitsplatz im Gericht, im Sitzungssaal, bei Augenschein und am häuslichen Arbeitsplatz des Richters zur Verfügung stehen.

2.2. Anforderungen an die Ergonomie des Arbeitsplatzes

  • Die permanente Bildschirmarbeit stellt neue Anforderungen an die Ergonomie des Arbeitsplatzes.
  • Dies beginnt bei einer EDV-gerechten Beleuchtung und Beschattung an jedem Arbeitsplatz. Zur Vorbeugung von Rückenschäden sind variable Schreibtische, die Arbeiten im Sitzen und Stehen ermöglichen ebenso erforderlich, wie ergonomische Schreibtischstühle.
  • Es werden hochauflösende Displays benötigt.
  • Jedem Mitarbeiter ist eine individuelle Beratung für eine optimale Gestaltung des jeweiligen Arbeitsplatzes anzubieten. Diese ist laufend zu optimieren.

Quelle: Bayerischer Richterverein e.V. Logo des BRV: (c) Bayerischer Richterverein e.V.  

Redaktionelle Hinweise

Vorstehendes Positionspapier ist zuerst erschienen auf der Website des Bayerischen Richtervereins e.V. – herzlichen Dank dem Bayerischen Richterverein e.V. für die Möglichkeit, es auf BayRVR zu publizieren. Die Entwicklung zum Thema „eJustice“ lässt sich mit einem Klick auf das entsprechende Schlagwort nachvollziehen (siehe unterhalb des Beitrags unter „Tagged With“).

Net-Dokument BayRVR2014061001