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EuGH: Das von der EZB im September 2012 angekündigte OMT-Programm ist mit dem Unionsrecht vereinbar

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Dieses Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten überschreitet nicht die währungspolitischen Befugnisse der EZB und verstößt nicht gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten

Mit einer Pressemitteilung vom 6. September 2012 gab die Europäische Zentralbank (EZB) Beschlüsse über ein Programm[1] bekannt, mit dem das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) dazu ermächtigt wird, Staatsanleihen von Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets an den Sekundärmärkten[2] zu erwerben, sofern bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Dieses gewöhnlich als „OMT-Programm“[3] bezeichnete Programm soll Störungen des geldpolitischen Transmissionsmechanismus beheben, die durch die besondere Situation der Staatsanleihen bestimmter Mitgliedstaaten hervorgerufen werden, und die Einheitlichkeit der Geldpolitik sicherstellen.

Die EZB hatte nämlich festgestellt, dass damals die Zinssätze der Staatsanleihen verschiedener Staaten des Euro-Währungsgebiets eine hohe Volatilität und extreme Unterschiede aufwiesen. Nach Auffassung der EZB beruhten diese Unterschiede nicht nur auf makroökonomischen Unterschieden zwischen diesen Staaten, sondern hatten ihre Ursache teilweise darin, dass für die Anleihen bestimmter Mitgliedstaaten überhöhte Risikoaufschläge verlangt worden seien, mit denen der Gefahr eines Auseinanderbrechens des Euro-Währungsgebiets habe begegnet werden sollen. Diese besondere Lage bewirkte nach den Feststellungen der EZB eine erhebliche Schwächung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus des ESZB sowie eine Fragmentierung bei den Refinanzierungsbedingungen der Banken und der Darlehenskosten, wodurch die Wirksamkeit der vom ESZB an die Wirtschaft ausgesendeten Impulse in einem erheblichen Teil des Euro-Währungsgebiets stark verringert worden sei.

Die EZB behauptet[4], dass allein die Ankündigung dieses Programms genügt habe, um die angestrebte Wirkung, d. h. die Wiederherstellung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus und der Einheitlichkeit der Geldpolitik, zu erzielen. Auch mehr als zwei Jahre nach seiner Ankündigung ist das OMT-Programm bisher nicht durchgeführt worden.

Beim Bundesverfassungsgericht in Deutschland sind mehrere Verfassungsbeschwerden und ein Organstreitverfahren wegen der Mitwirkung der Deutschen Bundesbank an der Umsetzung des OMT-Programms und der behaupteten Untätigkeit der Bundesregierung und des Deutschen Bundestags im Hinblick auf dieses Programm anhängig[5]. Zur Begründung machen die Beschwerdeführer und die Antragstellerin des Organstreitverfahrens geltend, dass das OMT-Programm nicht unter das Mandat der EZB falle und gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets verstoße. Ferner tragen sie vor, dass durch diese Beschlüsse das im Grundgesetz niedergelegte Demokratieprinzip verletzt und dadurch die deutsche Verfassungsidentität beeinträchtigt werde.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Gerichtshof ersucht, darüber zu befinden, ob die Unionsverträge das ESZB zu dem Erlass eines Programms wie des OMT-Programms ermächtigen. Es hat insbesondere die Fragen aufgeworfen, ob dieses Programm unter die in den Unionsverträgen vorgesehenen Befugnisse des ESZB fällt und ob es mit dem Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten vereinbar ist.

Mit seinem heutigen Urteil antwortet der Gerichtshof auf das Vorabentscheidungsersuchen, dass die Unionsverträge[6] das ESZB dazu ermächtigen, ein Programm wie das OMT-Programm zu beschließen.

Zu den Befugnissen des ESZB

Der Gerichtshof legt zunächst die Befugnisse des ESZB dar, das für die Festlegung und Ausführung der Währungspolitik zuständig ist (für die die Union gegenüber den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets eine ausschließliche Zuständigkeit besitzt). In diesem Zusammenhang hebt er hervor, dass nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung das ESZB nicht in gültiger Weise ein Programm beschließen und durchführen kann, das über den Bereich hinausgeht, der der Währungspolitik durch das Primärrecht zugewiesen wird. Um die Einhaltung dieses Grundsatzes zu gewährleisten, unterliegen die Handlungen des ESZB gemäß den in den Verträgen festgelegten Voraussetzungen der gerichtlichen Kontrolle durch den Gerichtshof.

Der Gerichtshof stellt fest, dass das OMT-Programm in Anbetracht seiner Ziele und der zu ihrer Erreichung vorgesehenen Mittel zum Bereich der Währungspolitik gehört und damit unter die Befugnisse des ESZB fällt.

Zum einen trägt das OMT-Programm, da es die Einheitlichkeit der Geldpolitik gewährleisten soll, zur Erreichung der Ziele dieser Politik bei, da diese nach den Unionsverträgen „einheitlich“ sein muss.

Zum anderen vermag das OMT-Programm, da es eine ordnungsgemäße Transmission der Geldpolitik sicherstellen soll, zugleich die Einheitlichkeit dieser Politik zu gewährleisten und zu deren vorrangigem Ziel beizutragen, das in der Gewährleistung der Preisstabilität besteht.

Die Fähigkeit des ESZB, durch seine geldpolitischen Entscheidungen die Preisentwicklung zu beeinflussen, hängt nämlich in weitem Umfang von der Übertragung der Impulse ab, die es auf dem Geldmarkt an die verschiedenen Wirtschaftssektoren aussendet. Eine Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus ist daher geeignet, die Entscheidungen des ESZB in einem Teil des Euro-Währungsgebiets ins Leere gehen zu lassen und damit die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu beeinträchtigen. Zudem wird, da eine Störung des Transmissionsmechanismus die Wirksamkeit der vom ESZB beschlossenen Maßnahmen beeinträchtigt, dadurch zwangsläufig dessen Fähigkeit beeinträchtigt, die Preisstabilität zu gewährleisten. Der Umstand, dass das OMT-Programm möglicherweise geeignet ist, auch zur Stabilität des Euro-Währungsgebiets beizutragen (die der Wirtschaftspolitik zuzurechnen ist), kann diese Beurteilung nicht in Frage stellen. Eine währungspolitische Maßnahme kann nämlich nicht allein deshalb einer wirtschaftspolitischen Maßnahme gleichgestellt werden, weil sie mittelbare Auswirkungen auf die Stabilität des Euro-Währungsgebiets haben kann.

Zu den im OMT-Programm in Aussicht genommenen Mitteln, d. h. dem Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten, führt der Gerichtshof aus, dass mit diesen Mitteln eines der geldpolitischen Instrumente genutzt wird, die die Unionsverträge vorsehen. Die Verträge gestatten es der EZB und den nationalen Zentralbanken nämlich, auf den Finanzmärkten tätig zu werden, indem sie auf Euro lautende börsengängige Wertpapiere endgültig kaufen und verkaufen.

Angesichts seiner spezifischen Merkmale kann das OMT-Programm nicht als eine wirtschaftspolitische Maßnahme eingestuft werden. Was insbesondere die in dem Programm vorgesehene Voraussetzung angeht, wonach seine Durchführung von der vollständigen Einhaltung eines makroökonomischen Anpassungsprogramms der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) oder des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abhängt, lässt sich zwar nicht ausschließen, dass dieses Merkmal mittelbare Auswirkungen auf die Erreichung bestimmter wirtschaftspolitischer Ziele haben kann. Solche mittelbaren Auswirkungen können jedoch nicht bedeuten, dass das OMT-Programm als eine wirtschaftspolitische Maßnahme anzusehen wäre, da das ESZB nach den Unionsverträgen unbeschadet des Ziels der Preisstabilität die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt.

Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass das OMT-Programm auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt.

Erstens konnte das ESZB unter wirtschaftlichen Bedingungen, wie sie die EZB am 6. September 2012 beschrieben hat, rechtmäßig zu der Beurteilung gelangen, dass das OMT-Programm geeignet ist, zu den vom ESZB verfolgten Zielen und damit zur Gewährleistung der Preisstabilität beizutragen.

Zweitens geht das OMT-Programm angesichts der Voraussetzungen, die für seine etwaige Durchführung festgelegt wurden, nicht offensichtlich über das hinaus, was zur Erreichung der mit ihm verfolgten Ziele erforderlich ist. Zu diesen Voraussetzungen zählen insbesondere seine strikte Bindung an diese Ziele und seine Beschränkung auf bestimmte Arten von Staatsanleihen, die von Mitgliedstaaten ausgegeben wurden, welche auf der Grundlage von Kriterien, die an die verfolgten Ziele geknüpft sind, identifiziert werden.

Drittens hat das ESZB die verschiedenen beteiligten Interessen in der Weise gegeneinander abgewogen, dass tatsächlich vermieden wird, dass sich bei der Durchführung des OMT-Programms Nachteile ergeben, die offensichtlich außer Verhältnis zu dessen Zielen stünden.

Zum Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten

Der Gerichtshof stellt fest, dass dieses Verbot dem ESZB nicht untersagt, ein Programm wie das OMT-Programm unter Voraussetzungen zu beschließen und durchzuführen, unter denen dem Tätigwerden des ESZB nicht die gleiche Wirkung zukommt wie dem unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten.

Auch wenn die Unionsverträge jede finanzielle Unterstützung des ESZB zugunsten eines Mitgliedstaats verbieten, schließen sich nicht in allgemeiner Weise die für das ESZB bestehende Möglichkeit aus, von den Gläubigern eines Mitgliedstaats Schuldtitel zu erwerben, die dieser Staat zuvor ausgegeben hat.

Jedoch darf der Erwerb von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten nicht die gleiche Wirkung haben wie der unmittelbare Erwerb solcher Anleihen am Primärmarkt. Auch dürfen solche Ankäufe nicht eingesetzt werden, um das mit dem Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten verfolgte Ziel zu umgehen. Durch dieses Verbot sollen die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, eine gesunde Haushaltspolitik zu befolgen, indem vermieden wird, dass eine monetäre Finanzierung öffentlicher Defizite oder Privilegien der öffentlichen Hand auf den Finanzmärkten zu einer übermäßigen Verschuldung oder überhöhten Defiziten der Mitgliedstaaten führen. Daher muss die EZB, wenn sie Staatsanleihen an den Sekundärmärkten erwirbt, ihr Tätigwerden mit hinreichenden Garantien versehen, um sicherzustellen, dass es mit dem Verbot der monetären Finanzierung in Einklang steht.

Insoweit betont der Gerichtshof, dass ein Tätigwerden des ESZB in der Praxis dann die gleiche Wirkung wie ein unmittelbarer Erwerb von Staatsanleihen haben könnte, wenn die Wirtschaftsteilnehmer, die möglicherweise Staatsanleihen auf dem Primärmarkt erwerben, die Gewissheit hätten, dass das ESZB diese Anleihen binnen eines Zeitraums und unter Bedingungen ankaufen würde, die es diesen Wirtschaftsteilnehmern ermöglichten, faktisch als Mittelspersonen des ESZB für den unmittelbaren Erwerb dieser Anleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats zu agieren.

Indessen ergibt sich aus den von der EZB im Verfahren vor dem Gerichtshof vorgelegten Entwürfen für einen Beschluss und Leitlinien, dass der EZB-Rat dafür zuständig zu sein hätte, über den Umfang, den Beginn, die Fortsetzung und die Aussetzung der in dem OMT-Programm vorgesehenen Interventionen an den Sekundärmärkten zu entscheiden. Überdies hat die EZB vor dem Gerichtshof klargestellt, dass das ESZB zum einen beabsichtigt, eine Mindestfrist zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem Primärmarkt und seinem Ankauf an den Sekundärmärkten einzuhalten, und dass zum anderen eine vorherige Ankündigung seiner Entscheidung, solche Ankäufe vorzunehmen, oder des Volumens der geplanten Ankäufe ausgeschlossen sein soll.

Da sich durch diese Garantien verhindern lässt, dass die Emissionsbedingungen für Staatsanleihen durch die Gewissheit verfälscht werden, dass diese Anleihen nach ihrer Ausgabe vom ESZB angekauft werden, kann durch diese Garantien ausgeschlossen werden, dass die Durchführung des OMT-Programms in der Praxis die gleiche Wirkung hat wie der unmittelbare Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten.

Durch die Merkmale des OMT-Programms wird ebenfalls ausgeschlossen, dass das Programm als geeignet angesehen werden könnte, den Mitgliedstaaten den Anreiz zur Verfolgung einer gesunden Haushaltspolitik zu nehmen und damit das Ziel zu umgehen, das dem Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten zugrunde liegt.

EuGH, Pressemitteilung v. 16.06.2015 zum U. v. 16.06.2015, C-62/14 (Gauweiler u. a.)

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[1] „Beschlüsse“ des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 zu einer Reihe technischer Merkmale der geldpolitischen Outright-Geschäfte des Eurosystems an den Sekundärmärkten für Staatsanleihen.

[2] D. h. Anleihekäufe nicht unmittelbar von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der betreffenden Mitgliedstaaten, sondern nur mittelbar von Wirtschaftsteilnehmern, die diese Staatsanleihen zuvor ihrerseits auf dem Primärmarkt erworben haben.

[3] OMT steht für „Outright Monetary Transactions“ („geldpolitische Outright-Geschäfte“).

[4] Diese Behauptung ist vor dem Gerichtshof nicht bestritten worden.

[5] Die Verfassungsbeschwerden wurden durch mehrere Gruppen von Privatpersonen, darunter eine mit mehr als 11 000 Beschwerdeführern, erhoben. Das Organstreitverfahren wurde von der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag eingeleitet.

[6] Genauer Art. 119 AEUV, Art. 123 Abs. 1 AEUV und Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie die Art. 17 bis 24 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank [PDF, 759 KB].