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Das BVerfG ‚verurteilt’ sich selbst

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Von Ass. iur. Fabian Michl, Universität Regensburg

Kommentar zu BVerfG (BK), Beschl. v. 20.08.2015 – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14 – überlange Verfahrensdauer

‚Nemo debet esse iudex in causa sua‘ – so oder so ähnlich lautet ein alter Rechtsgrundsatz, nach dem niemand Richter in eigener Sache sein darf. Manchmal ist Rechtsprechung in eigenen Angelegenheiten aber unvermeidlich, etwa wenn die Beschwerdekammer des BVerfG über eine Verzögerungsbeschwerde wegen unangemessener Verfahrensdauer vor dem BVerfG nach § 97b BVerfGG zu entscheiden hat. Nachdem die Beschwerdekammer in der Vergangenheit bereits mehrere solcher Verzögerungsbeschwerden zurückgewiesen hatte (Beschl. v. 30.07.2013 – 2 BvE 2/09 – Vz 2/13, 2 BvE 2/10 – Vz 3/13; Beschl. v. 01.10.2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12), gab sie nun erstmals einer solchen Beschwerde statt und ‚verurteilte‘ sich somit gleichsam selbst wegen unangemessener Verfahrensverzögerung. Pikante Randnotiz: Damit steht fest, dass das BVerfG, sonst selbstbewusster ‚Hüter‘ der Grundrechte, selbst das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf angemessene Verfahrendauer aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hat.

Hintergrund

Mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜVerfBesG) vom 24.11.2011 hat der Gesetzgeber auf die immer lauter werdende Kritik reagiert, dass das deutsche Prozessrecht keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine unangemessene Verzögerung des gerichtlichen Verfahrens vorsah. Prominentester ‚Kritiker‘ war freilich der EGMR, der in einer ganzen Reihe von Entscheidungen Deutschland für konventionsrechtswidrige Verfahrensverzögerungen verurteilte. In der Pilotentscheidung Rumpf/Deutschland (EGMR, Urt. v. 02.09.2010 – Beschw.-Nr. 46344/06) ließ der Gerichtshof schließlich verlauten, dass die zahlreichen Individualbeschwerden wegen unangemessener Verfahrensdauer die Folge von „Mängeln im deutschen Rechtssystem“ seien, und forderte den deutschen Gesetzgeber nachdrücklich zur Abhilfe auf.

Das Herzstück des ÜVerfBesG sind die §§ 198 ff. GVG, die einen Anspruch auf Entschädigung bei unangemessener Verfahrensdauer vor den ordentlichen Gerichten und über Verweisungsvorschriften in den jeweiligen Prozessordnungen auch vor den anderen Fachgerichten vorsehen.

Durch Art. 2 ÜVerfBesG wurde auch das BVerfGG um eine vergleichbare Regelung in den §§ 97a ff. unter der Überschrift „Verzögerungsbeschwerde“ ergänzt. Dabei wurden die Spezifika des verfassungsgerichtlichen Verfahrens berücksichtigt. Nach § 97a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG sind bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer die Aufgaben und die Stellung des BVerfG zu berücksichtigen. Der Anspruch auf Entschädigung und Wiedergutmachung ist durch „Verzögerungsbeschwerde“ zum BVerfG geltend zu machen (§ 97b Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), der wiederum eine Verzögerungsrüge nach § 97b Abs. 1 Sätze 2 bis 4 BVerfGG vorausgehen muss. Über die Verzögerungsbeschwerde entscheidet eine eigens hierfür nach § 97c BVerfGG gebildete Beschwerdekammer, die mit je zwei Richtern aus jedem Senat besetzt ist. § 97c Abs. 2 BVerfGG enthält eine spezielle Ausschließungsregel für den Fall, dass der Berichterstatter des beanstandeten Verfahrens Mitglied der Beschwerdekammer ist. § 97d Abs. 1 BVerfGG sieht eine Stellungnahme des Berichterstatters vor. Die Entscheidung der Beschwerdekammer ist gem. § 97d Abs. 2 BVerfGG unanfechtbar.

Sachverhalt

Die Bf. wendete sich mit ihrer am 24.03.2009 erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen in einem von ihr angestrengten Verfahren wegen Geschlechterdiskriminierung durch ihren Arbeitgeber. Sie beantragte wenig später vorsorglich eine Bestimmung des zuständigen Senats im Ausschuss nach § 14 Abs. 5 BVerfGG. Hierzu kam es aber zunächst nicht, weil die Berichterstatter des Ersten und Zweiten Senats jeweils die eigene Zuständigkeit als gegeben erachteten.

Auf wiederholte Anfrage wurde der Bf. mitgeteilt, mit einer Entscheidung über die Zuständigkeit sei voraussichtlich im Frühjahr 2010 zu rechnen. Nach weiteren Anfragen entschied der Ausschuss nach § 14 Abs. 5 BVerfGG schließlich am 13.10.2010, dass der Zweite Senat zuständig sei, wo das Verfahren dann auch einem Berichterstatter zugewiesen wurde. Dieser blieb in der Sache untätig – in der Beschwerdeentscheidung wird seine „zweifellos gegebene“ Belastung wegen einer außergewöhnlichen „Häufung politisch höchst bedeutsamer und äußerst umfangreicher Verfahren“ betont.

Am 22.11.2011 änderte das BVerfG seine Geschäftsverteilung, wodurch nunmehr der Erste Senat für die Beschwerde zuständig wurde. Das Verfahren wurde dennoch – nach Ausscheiden des ursprünglichen Berichterstatters im Dezember 2012 – an einen anderen Berichterstatter im Zweiten Senat  gegeben, was der Bf. auf Anfrage im Januar 2012 mitgeteilt wurde. Am 19.05.2013 erhob die Bf. Verzögerungsrüge und wies auf den Wegfall der Senatszuständigkeit hin. Mit Wirkung vom 17.10.2013 wurde das Verfahren einvernehmlich vom Ersten Senat übernommen. Da der Ausgangsrechtsstreit aber bereits im Juni 2013 durch Vergleich beendet worden war, wurde das Verfassungsbeschwerdeverfahren durch Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014 abgeschlossen.

Die Bf. hatte bereits am 09.09.2014 Verzögerungsbeschwerde erhoben und beantragte Akteneinsicht, um die Beschwerde näher begründen zu können. Die Begründung hat sie wenig später (mit vorsorglicher erneuter Beschwerdeeinlegung) nachgereicht. Mit der Beschwerde macht sie eine Entschädigung für zahlreiche materielle und immaterielle Nachteile geltend.

Entscheidung

Die Beschwerdekammer gab der Beschwerde überwiegend statt und sprach der Bf. eine Entschädigung von insgesamt 3.000 EUR für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren unangemessener Verfahrensdauer zu. Die Begründung ist sowohl in prozessrechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht von Interesse.

Ausschlussgrund nach § 97c Abs. 2 BVerfGG

Hinsichtlich der Vorbefassung von Richtern, die gleichzeitig Mitglieder der Beschwerdekammer sind, führte die Kammer aus, dass nur solche Richter ausgeschlossen sind, die Berichterstatter im beanstandenden Verfahren waren; die übrigen Richter des Spruchkörpers sind in Abweichung von der allgemeinen Regel des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG nicht an der Mitwirkung gehindert, da § 97c Abs. 2 BVerfGG eine Spezialvorschrift darstelle (so auch BT-Drs. 17/3802, S. 27 f. [PDF, 811 KB]).

‚Gleichzeitige‘ Begründung nach § 97b Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

Mit Blick auf die Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde erklärte die Kammer den Wortlaut des § 97b Abs. 2 Satz 2 BVerfGG für missverständlich, der verlangt, dass die Beschwerde schriftlich einzulegen und gleichzeitig zu begründen ist. Diese Regelung solle zwar zur möglichst frühzeitigen Vorlage eine Begründung führen, jedoch nicht ausschließen, dass diese innerhalb der dreimonatigen Frist nach § 97b Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 BVerfGG gegeben werde. Ein Bf. kann also – wie im vorliegenden Fall – zunächst Verzögerungsbeschwerde ohne Begründung erheben und die Begründung dann später, etwa nach Akteneinsicht, innerhalb der Dreimonatsfrist nachreichen.

Ermittlung der unangemessenen Verfahrensdauer

Dreh- und Angelpunkt einer jeden Verzögerungsbeschwerde ist die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer. Die Beschwerdekammer referierte ausführlich die Grundsätze, die hierfür in der Rechtsprechung des BVerfG und vor allem des EGMR erarbeitet wurden. Demnach gibt es keine allgemeingültigen Zeitvorgaben. Vielmehr sei im Einzelfall abzuwägen, wobei die Natur des Verfahrens, die Bedeutung der Sache und ihre Auswirkungen, die Schwierigkeit. das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter sowie die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen seien. Außer Betracht bleiben müssten solche Umstände, die im Verantwortungsbereich des Staates selbst lägen.

Diese Grundsätze, die für das fachgerichtliche Verfahren entwickelt wurden, gelten nach Auffassung der Kammer auch für das BVerfG. Allerdings müssten – wie § 97a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG bestimmt – die Aufgaben und die Stellung des BVerfG beachtet werden. Eine wichtige Modifikation der allgemeinen Grundsätze sei hinsichtlich der Kapazitätsausweitung zur Verfahrensverkürzung angebracht, da die Struktur des BVerfG nicht ohne weiteres verändert werden könne. Auch die Auslegung der Verfassung sowie die besondere Rolle des BVerfG als Hüterin derselben ließen es zu, bei der Bearbeitung der Verfahren auch andere Umstände als die chronologische Reihenfolge der Verfahren heranzuziehen.

Im konkreten Fall erkannte die Beschwerdekammer zwei unterschiedliche Zeiträume unangemessener Verfahrensdauer. Erstens sei das Verfahren unangemessen um ein Jahr verzögert worden, weil die Entscheidung im Ausschuss nach § 14 Abs. 5 BVerfGG erst am 13.10.2010 getroffen worden sei, also eineinhalb Jahre nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde. Das war nach Auffassung der Kammer jedenfalls um ein Jahr verspätet, da die Bedeutung des Ausgangsverfahrens für die Bf. und die allgemein gebotene unverzügliche Klärung des gesetzlichen Richters eine schleunigere Behandlung erfordert hätten.

Der zweite ‚Verzögerungszeitraum‘ betrifft den Verfahrensabschnitt zwischen November 2011, also der Zuständigkeitsänderung zwischen den Senaten, und Oktober 2013, als das Verfahren schließlich an den zuständigen Senat abgegeben wurde. Das Verfahren blieb insgesamt 21 Monate bei einem unzuständigen Richter. Die Kammer hob hervor, dass die Verzögerung der Zuständigkeitsbestimmung auch nicht mit der Überlastung des Berichterstatters gerechtfertigt werden könne, denn es gehe nur um eine „Frage der Auslegung der Geschäftsverteilung“. Außerdem sei das Verfahren in dem Zeitpunkt schon etwa ein Jahr unangemessen verzögert gewesen, so dass das Gericht sich „besonders nachhaltig“ um eine Beschleunigung des Verfahrens hätte bemühen müssen. Für die verzögerte Abgabe an den zuständigen Berichterstatter rechnete die Kammer weitere eineinhalb Jahre Verfahrensverzögerung hinzu; m.a.W. hätte die Abgabe im konkreten Fall binnen drei Monaten erfolgen müssen.

Umfang des Entschädigungsanspruchs

Für die insgesamt zweieinhalb Jahre der unangemessenen Verfahrensdauer sprach die Beschwerdekammer der Bf. 3.000 EUR Entschädigung wegen immaterieller Nachteile gem. § 97a Abs. 2 BVerfGG zu. Solche Nachteile werden nach Satz 1 vermutet. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise, insbesondere eine bloße Feststellung der Unangemessenheit i.S.v. Satz 2 hielt die Kammer für nicht ausreichend. Sie setzte den Regelbetrag nach Satz 3 von 1.200 EUR pro Jahr der Verzögerung an.

Hinsichtlich der zahlreichen materiellen Nachteile, die die Bf. noch geltend gemacht hat, konnte die Kammer keine Kausalität zwischen der Verfahrensverzögerung und dem jeweiligen Nachteil feststellen. Dies sei aber nach § 97a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erforderlich für die Entschädigung.

Kommentar

Die Entscheidung zeigt, wie sich von unangemessenen Verzögerungen Betroffene auch vor dem höchsten deutschen Gericht zur Wehr setzen können. Erforderlich sind eine Verzögerungsrüge, eine ordnungsgemäß eingelegte Verzögerungsbeschwerde sowie die Erfüllung der materiellen Voraussetzungen von § 97a BVerfGG.

Klar ist aber auch, dass beim BVerfG nicht dieselben Maßstäbe für die Angemessenheit der Verfahrensdauer gelten können wie bei den Fachgerichten. Dort kann der allenthalben zu beklagende ‚Rückstau‘ durch die Schaffung neuer Richterstellen vergleichsweise ‚leicht‘ behoben werden. Gehäufte Verurteilungen aufgrund der §§ 198 ff. GVG werden die betroffenen Länder oder den Bund u.U. dazu anhalten, ihre Justizkapazitäten auszuweiten. Ob freilich die relativ gering bemessene Regelentschädigung von 1.200 EUR pro Verzögerungsjahr eine hinreichende ‚fiskalische Abschreckung‘ ist, darf man bei den um ein Vielfaches höher anzusetzenden Kosten für neue Richterstellen bezweifeln.

Bei Verzögerungen vor dem BVerfG geht es um viel mehr als nur um fiskalische Erwägungen. Der ‚Hüter‘ der Grundrechte kann nicht glaubhaft als solcher auftreten, wenn er selbst Grundrechte verletzt. Sollte dennoch eine solche Verletzung eingetreten sein – wie bei der geradezu kafkaesken Verfahrensverzögerung im Fall der Bf. –, tut das BVerfG gut daran, die Anforderungen an die Entschädigung nach §§ 97a ff. BVerfGG nicht überzustrapazieren und dem Betroffenen einen angemessenen Ausgleich zuzusprechen. Die besprochene Entscheidung setzt hier einen richtigen Akzent.

Die allgemeine Überlastung des BVerfG und einzelner Richter (vgl. hier) aufgrund der drastisch ansteigenden Verfahrenszahlen können Verfahrensverzögerungen wie im Fall der Bf. nicht rechtfertigen. Schließlich ging es zunächst nur um die Bestimmung der Zuständigkeit und um eine geschäftsordnungsmäßige Abgabe des Verfahrens nach dem Zuständigkeitswechsel. Beides erfordert einen vergleichsweise geringen Mittel-, Personal- und Zeitaufwand. Dass sich ein Verfahren deshalb um insgesamt 30 Monate verlängert, ja über 21 Monate von einem falschen Berichterstatter geführt wird, ist nicht hinnehmbar. Die Entscheidung der Beschwerdekammer ist auch deshalb ein erfreuliches Signal, weil sie klar macht, dass die pauschale Berufung auf Überlastung hausgemachte Missstände nicht zu übertünchen vermag. Das gilt für das BVerfG wie für jedes andere Gericht.

Anmerkung der Redaktion

Ass. iur. Fabian Michl ist Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere deutsches und europäisches Verwaltungsrecht von Prof. Dr. Gerrit Manssen, Universität Regensburg.

Vgl. auch Michl, Entschädigung für überlange Verfahrensdauer in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, BayRVR, Net-Dokument BayRVR2014051901, www.bayrvr.de (Stand: 19.05.2014).

Zu weiteren Entscheidungen im Kontext „überlange Verfahrensdauer“ vgl. hier.

 

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Net-Dokument BayRVR2015100401