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Rezension: Thiele, Verlustdemokratie (Mohr Siebeck 2016)

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Rezension_Fotolia_91184109_S_copyright - passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

In jüngster Zeit hat die Zahl an grundsätzlichen theoretischen Monografien zur Demokratie zugenommen. Zu nennen sind etwa die Werke von Christoph Möllers („Demokratie – Zumutungen und Versprechen“) oder Colin Crouch („Postdemokratie“). Das hier anzuzeigende Buch von Alexander Thiele, Privatdozent am Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften an der Universität Göttingen und Lehrstuhlvertreter an der FU Berlin, befasst sich mit aktuellen Gegebenheiten und Entwicklungen der Demokratie speziell in der Bundesrepublik Deutschland. Der Titel „Verlustdemokratie“ ist mehrdeutig, da er offen lässt, in welchem Verhältnis die Begriffe „Verlust“ und „Demokratie“ zueinander stehen und mehrere Deutungen zulässt. Der Untertitel wird deutlicher: „Die drei Verlustebenen der Demokratie“. Es geht um eine in erster Linie negative Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Zustands der Demokratie in Deutschland; schon der erste Satz lautet: „Die deutsche Demokratie genießt keinen sonderlich guten Ruf.“ Das Buch stellt – um es vorwegzunehmen – keine rechtswissenschaftliche, auch keine staatsrechtswissenschaftliche Abhandlung dar, sondern gestaltet sich als Mischung aus feuilletonistischem Essay und politikwissenschaftlich orientierter Beschreibung. Dies ist zum einen eine Stärke des Buches, weil es sich leicht und flüssig liest. Es ist aber gleichzeitig und vor allem eine Schwäche, da viele Gedanken und Beobachtungen eher assoziativ als juristisch-analytisch aufbereitet werden.

Als geschickt erweist sich indes der Aufbau des Buches. Der Autor gliedert seine Überlegungen in drei Teile. In einem ersten Teil entwickelt er ein demokratisches Referenzmodell, an dessen Maßstab er seine nachfolgende Verlustanalyse ausrichtet. Der zweite Teil beschreibt sodann drei „Verlustebenen“ der deutschen Demokratie. Der dritte Teil bemüht sich um nichts weniger als um eine „Wiederbelebung der Demokratie“.

Bei der Formulierung eines normativen demokratischen Referenzmodells im ersten Teil geht der Autor realistisch vor. Er entwirft kein überambitioniertes, praxisfernes Demokratiemodell, sondern beschreibt einen plausiblen und realisierbaren Referenzrahmen. Er vermeidet daher ein Phänomen, das in der demokratietheoretischen Literatur gelegentlich auftaucht, nämlich dass zunächst theoretisch sehr hohe Hürden aufgestellt und sehr weitreichende, idealisierte Anforderungen an das Funktionieren der Demokratie formuliert werden, an denen dann die Realität scheitert – was anschließend umso heftiger kritisiert wird. Thiele beschreibt in einem realistischen Ansatz drei wesentliche Elemente der Demokratie. Erstens die gegenständliche Omnipotenz, also die Möglichkeit des demokratischen Regierungssystems, sich grundsätzlich jedes (politischen) Gegenstandes anzunehmen. Zweitens prägt die Demokratie eine spezifische Streitkultur, die insbesondere in den demokratischen und medialen Verfahren zum Ausdruck kommt. Drittens postuliert die Demokratie eine umfassende Partizipation des Volkes, also aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Thiele idealisiert diese drei Elemente nicht, sieht in ihnen also nicht das, was man in der Rechtstheorie als Prinzipien- oder Optimierungsgebote bezeichnet. Er betont vielmehr völlig zutreffend, dass die drei Elemente immer vor dem Hintergrund der Wirklichkeit und der realen Bedingungen in einem Staat zu sehen sind.

Auf der Basis dieses realistischen dreigliedrigen Referenzmodells der Demokratie erörtert Thiele sodann im zweiten Teil „die drei Verlustebenen der deutschen Demokratie“. Er wendet sich zunächst dem Verlust der gegenständlichen Omnipotenz zu und macht hierfür einerseits Globalisierungs- und Ökonomisierungsprozesse und andererseits die Privatisierung von Staatsaufgaben verantwortlich. Auch die Errichtung unabhängiger Expertengremien und Behörden, in denen Entscheidungen maßgeblich vorbereitet oder gar vorweg genommen werden, weist Thiele als Verlust der gegenständlichen Omnipotenz der Demokratie aus. Sodann wendet er sich den Verfahrensverlusten zu und macht aktuell eine „defizitäre Streitkultur“ aus. Diese verortet er zunächst im politischen Raum und stellt hier eine „Vermeidung des Streitverfahrens“ sowie eine „Ergebnisfixierung“ fest. Er begründet dies mit einer mangelnden inhaltlichen Positionierung vieler Politiker, dem Phänomen der Großen Koalitionen, der nicht-öffentlichen „Verausschussung“ und Lobby-Einflüssen sowie mit einer „Verdrängung des politischen Primärstreitraums in außerparlamentarische Experten-Kommissionen“. Sodann diagnostiziert er eine „mangelnde Streittiefe“ durch soziale Netzwerke, die „Nichtanerkennung der politischen Niederlage im Primärstreitraum“ sowie die „Ökonomisierung als herrschende politische Rationalität“. Eine defizitäre Streitkultur macht der Autor auch bei Partei-Neugründungen aus und führt hierfür als Beispiel die Piratenpartei und die Alternative für Deutschland (AfD) an. Das NPD-Parteiverbotsverfahren sieht er gar als einen Fall von „Streitvermeidung“ an. Zu den Verfahrensverlusten gehören nach Thiele auch „mediale Mittlungsverluste“. Er sieht mediale Distanzverluste und übt hierbei teilweise deutliche Kritik an der gegenwärtigen Struktur medialer Vermittlung politischer Inhalte. Seine Stichworte lauten: „Medien als Co-Politiker“, „Medialer Pluralismusverlust durch Homogenisierung“, „Mediale Diskursverzerrung“, „Verfehltes Streitverständnis“, „Unzureichende Streittiefe“. Manche Aspekte, die Thiele hier zusammenträgt, sind zutreffend beobachtet und auch durchaus kritisch zu würdigen. Allerdings reiht der Autor seiner Meinung nach bestehende Defizite in der medialen Vermittlung politischer Inhalte und Diskurse weitgehend assoziativ und ohne analytischen Tiefgang aneinander. Dabei scheut er sich auch nicht, einzelne Journalisten, die er „Alphajournalisten“ nennt, namentlich zu erwähnen und die Wahrnehmung ihrer Rolle deutlich zu kritisieren. Nach Auffassung des Rezensenten gehören solche Ausführungen weniger in ein rechtswissenschaftliches Buch als vielmehr (allenfalls) ins politische Feuilleton.

Schließlich befasst sich Thiele mit der dritten Verlustebene, dem „Verlust des Demos“. Hier spricht er zunächst sinkende Wahlbeteiligungen und die defizitäre Organisation der Bürgerinnen und Bürger in Parteien an. Wiederum eher feuilletonistisch beschreibt er eine seiner Meinung nach bestehende Entwicklung vom „homo politicus“ zum „homo oeconomicus“ und lässt die Gelegenheit nicht ungenutzt, „zahlreichen Wirtschaftseliten“ eine „Doppelmoral und Selbstbesinnungsmentalität“ vorzuhalten. Hier – wie an anderen Stellen des Buches – kommt eine unter Staatsrechtslehrern durchaus verbreitete Selbstgerechtigkeit, ein elitärer Dünkel des in Staatsdingen Bewanderten zum Ausdruck. In einem Exkurs befasst sich Thiele knapp mit dem, was er „Wutbürgerphänomen“ nennt. Zur wissenschaftlich adäquaten Erfassung dieses Phänomens, das schon terminologisch kaum zutreffend bezeichnet sein dürfte, bedarf es wohl weniger einer essayistischen Analyse eines Staatsrechtlers, sondern einer fundierten soziologischen und psychologischen Realanalyse. Nicht nur an dieser Stelle des Buches gewinnt der Rezensent den Eindruck, dass der Autor die Verschlagwortung, mit der der politisch-gesellschaftliche Prozess in Deutschland in der öffentlichen Diskussion begleitet wird, gerne aufgreift und Schlagworte anstelle einer fundierten Analyse setzt.

Im dritten Teil nun, dem konstruktiven Teil des Buches, möchte Thiele Vorschläge zur „Wiederbelebung der Demokratie“ unterbreiten. Bereits der Begriff „Wiederbelebung“ erweckt – wohl beabsichtigt – negative Assoziationen. „Wiederbeleben“ kann man nur jemanden, der schon das Stadium des Sterbens erreicht, wenn nicht überschritten hat. Dies dürfte – bei aller durchaus zutreffenden Beobachtung von kritikwürdigen Phänomenen – eine zu negative Sichtweise der demokratischen Verhältnisse in Deutschland sein. Systematisch allerdings konsequent setzt Thiele für die Unterbreitung seiner Vorschläge an der das Buch durchziehenden Dreiteilung (gegenständliche Omnipotenz, spezifische Streitkultur, umfassende Partizipation) an. Dabei finden sich einleitend doch relativ banale Sätze, wie z.B.: „Eine lebendige demokratische Gesellschaft ist normativ nicht erzwingbar.“ Oder: „Auch die hier aufgezeigten Verluste werden sich nicht durch eine einfache Änderung der rechtlichen Vorgaben beseitigen lassen.“ Oder: „Demokratie lässt sich nicht ver- oder vorschreiben, sondern hängt von einer Vielzahl nicht-normativer Voraussetzungen ab.“ Wer wollte widersprechen? Zur „Wiederbelebung der gegenständlichen Omnipotenz“ bringt Thiele zunächst eine stärkere politische Steuerung der Globalisierung ins Spiel. Dazu bedürfe es einer „öffentlichen Debatte ohne den Rückgriff auf behauptete Alternativlosigkeiten“. In diesem Zusammenhang spricht der Autor auch die „Neugestaltung der Europäischen Union“ als Desiderat an. Dies ist insbesondere nach dem sog. „Brexit“-Votum des Vereinigten Königreichs (ein Ergebnis, von dem Thiele bei der Erstellung seines Manuskripts noch keine Kenntnis hatte) sicherlich auf der künftigen Agenda der Europapolitik. Auch hier kommt Thiele jedoch nicht über politische Allgemeinplätze hinweg, wie z.B. eine Diskussion über das Ausmaß der Kompetenzen der Europäischen Union, die Schärfung der Einheit in Vielfalt etc. Zur „Wiederbelebung“ der Demokratie unterbreitet Thiele aber auch genuin (gesellschafts)politische Vorschläge, insbesondere eine „Hinterfragung neoliberaler Glaubenssysteme“. Er kritisiert, dass die „neoliberalen Leitmotive“ im politischen Raum mehr oder weniger „unhinterfragt“ blieben. Auch diese Behauptung erscheint nach der Sicht des Rezensenten viel zu pauschal und destruktiv. Vielmehr findet eine entsprechende Diskussion, etwa im Zusammenhang mit Freihandelsabkommen, durchaus statt. Es fragt sich auch, was Thiele eigentlich unter neoliberalen Leitmotiven versteht. Auch insofern zeigt sich eine Schwäche des Buches, nämlich das nicht tiefer reflektierte Aufgreifen von Schlagworten aus dem politischen Diskurs. Des Weiteren fordert Thiele eine „Wiederbelebung der Streitkultur“. Hier unterbreitet er durchaus konkrete Vorschläge, wie etwa den, dass sich der Bundeskanzler in regelmäßigen Abständen allgemeinen Befragungen durch das Parlament stellen müsse. Ob solche Befragungen tatsächlich zu einer Belebung der (parlamentarischen) Streitkultur führen würden oder nicht eher in den Routinen des Berliner Politikbetriebs abgeschliffen würden, bliebe freilich abzuwarten. Schließlich fordert Thiele eine „Wiederbelebung des Demos“. Auch hier finden sich merkwürdig „platte“ Aussagen: „Den Demos aus seiner demokratischen Lethargie zu befreien, dürfte keine leichte Aufgabe sein.“ Oder: „Gerade hier wird es in besonderer Weise darum gehen, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass … die Bedeutung politischen Engagements für die Funktionsfähigkeit der Demokratie wieder sichtbar wird“. Es ist Thiele allerdings zugute zu halten, dass er hierzu auch einige konkrete Vorschläge unterbreitet. Ein (freilich nicht neuer) Vorschlag geht dahin, die Wahlpflicht in Deutschland einzuführen sowie die Wiederwahlmöglichkeiten des Bundeskanzlers zu begrenzen. Aber auch hier geht der Autor nicht in die Tiefe, sondern belässt es bei der Formulierung der Vorschläge und einigen knappen Notizen dazu. Schließlich bringt er noch die Einführung der „Demokratie als Schulfach“ ins Spiel und verficht die in der politischen Diskussion beliebte (aber letztlich hilflose und die Schulen weiter überfrachtende) Strategie, in allen Bereichen, in denen man Defizite ausmacht, die Einrichtung eines entsprechenden Schulfaches zu fordern. Am Ende des Buches finden sich einige Überlegungen zu einer „maßvollen Ausweitung der direkten Demokratie“. Aber auch hier finden sich keine wirklich weiterführenden Gedanken, allerdings wiederum unangebrachte Abkanzelungen der vom Autor sog. Eliten. „Auch bei Eliten“ meint der Autor  eine „durchaus verbreitete Unkenntnis demokratischer Strukturen“ feststellen  zu können; und weiter: „Fehlende demokratische Basiskompetenzen sind keineswegs ein auf sozial prekäre Schichten begrenztes Phänomen. Auch bei den vermeintlichen Eliten besteht in dieser Hinsicht eine gewaltige Bildungslücke“. Man fragt sich: Wen meint der Autor eigentlich?

Das Fazit fällt negativ aus: Zwar greift Thiele mit seinen Verlustthesen einige durchaus kritikwürdige Phänomene der gegenwärtigen Demokratie in Deutschland heraus. Er spricht eine Fülle von Themen an: von „Stuttgart 21“ über die „Elbphilharmonie“ bis hin zur Politik der EZB, von Pegida über die Zusammensetzung von Talkshows bis hin zur Olympiabewerbung Hamburgs. Seine Ausführungen bleiben jedoch fast durchweg an der Oberfläche und beschränken sich auf das Aufgreifen von Schlagworten sowie auf einige – meist subjektiv gefärbte – Anmerkungen dazu. Aus der Sicht des Rezensenten handelt es sich um eine durchaus beispielreiche Materialsammlung, jedoch nicht um einen substanziellen wissenschaftlichen Beitrag zur demokratietheoretischen Diskussion in Deutschland.

Alexander Thiele, Verlustdemokratie – Die drei Verlustebenen der Demokratie; Mohr Siebeck 2016, XII, 302 Seiten, fadengeheftete Broschur; ISBN 978-3-16-154639-6; 29,00 EUR

Net-Dokument BayRVR2016070801; Titelfoto: (c) bogdanvija – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

01_Prof. Lindner_passProf. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg sowie geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht.

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