Gesetzgebung

BayVerfGH: Regelungen über Volksbefragungen mit der Bayerischen Verfassung unvereinbar

Entscheidung des BayVerfGH vom 21.11.2016 über zwei von Oppositionsfraktionen im Bayerischen Landtag eingeleitete Meinungsverschiedenheiten zur Frage, ob das Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes (LWG) vom 23.02.2015 (GVBl S. 18) die Bayerische Verfassung verletzt.

I.

Gegenstand der Verfahren ist die Frage, ob die durch eine Änderung des Landeswahlgesetzes im Jahr 2015 eröffnete Möglichkeit, Volksbefragungen durchzuführen, mit der Bayerischen Verfassung zu vereinbaren ist. In der Verfassung selbst sind seit 1946 Volksbegehren und Volksentscheide als plebiszitäre Elemente verankert; sie betreffen vor allem den Erlass von Gesetzen durch das Volk. Demgegenüber können nach der Neuregelung im Landeswahlgesetz konsultative Volksbefragungen über Vorhaben des Staates mit landesweiter Bedeutung (z.B. Infrastrukturprojekte) durchgeführt werden, wenn Landtag und Staatsregierung dies übereinstimmend beschließen; über die Gesetzgebung findet keine Volksbefragung statt.

II.

1. Die Antragsteller halten die Neuregelung für verfassungswidrig. Die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag ist der Ansicht, das angegriffene Gesetz stärke die Stellung des Ministerpräsidenten über das in der Verfassung vorgesehene Maß hinaus; insoweit greife es sowohl zulasten der Ressortverantwortung der Staatsminister wie auch zulasten des Landtags in deren verfassungsrechtlich garantierte Rechtspositionen ein. Aus diesem Grund hätte es nur als verfassungsänderndes Gesetz erlassen werden dürfen [red. Hinweis: zur Antragsschrift vgl. hier]. Nach Auffassung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bayerischen Landtag wird die vom Verfassungsgeber austarierte Kompetenz- und Machtverteilung in substanzieller Weise verändert. Plebiszitäre Beteiligungen des Volkes bedürften grundsätzlich einer Verankerung im Verfassungstext. Ferner rügen beide Antragstellerinnen eine Verletzung des Art. 16a BV, weil kein Initiativrecht für Minderheiten vorgesehen sei. [Red. Hinweis: Zur Antragsschrift von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vgl. hier]

2. Die CSU-Fraktion und die Bayerische Staatsregierung als Antragsgegnerinnen sowie der Bayerische Landtag halten die Anträge für unbegründet. Im Gegensatz zu dezisiven direktdemokratischen Elementen hätten konsultative Volksbefragungen mangels Bindungswirkung keine relevante Verschiebung im staatsorganisatorischen Gefüge zur Folge. Der Opposition werde durch die angegriffene Regelung nichts vorenthalten, worauf sie von Verfassungs wegen einen Anspruch hätte.

III.

Der BayVerfGH hat am 21.11.2016 entschieden, dass die Regelungen über Volksbefragungen im Landeswahlgesetz mit der Bayerischen Verfassung unvereinbar sind:

1. Die Volksbefragung gemäß Art. 88a LWG ist ein nach gesetzlichen Vorgaben organisierter Urnengang, bei dem alle wahlberechtigten Staatsbürgerinnen und -bürger zur Abstimmung aufgerufen sind. Die Durchführung einer Volksbefragung stellt einen Akt der Staatswillensbildung dar. Dem steht nicht entgegen, dass die Volksbefragung konsultativ ausgestaltet ist und ihr Ergebnis den Landtag und die Staatsregierung nicht bindet.

2. Die Formen der Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung sind in Art. 7 Abs. 2 BV dem Grundsatz nach abschließend aufgeführt; ohne Änderung der Verfassung können neue plebiszitäre Elemente nicht eingeführt werden.

3. Art. 88a LWG erweitert das Staatsgefüge um ein neues Element der direkten Demokratie, das geeignet ist, das von der Verfassung vorgegebene Kräfteverhältnis der Organe und ihre Gestaltungsspielräume zu beeinflussen. Als neuartiges Instrument der unmittelbaren Demokratie, das die geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen zur Staatswillensbildung modifiziert, hätte die Einführung von Volksbefragungen einer Verankerung in der Bayerischen Verfassung bedurft.

Zu der Entscheidung im Einzelnen

1. Die Bayerische Verfassung gibt als Staatsform die repräsentative Demokratie vor, die in bestimmten Bereichen durch plebiszitäre Elemente ergänzt wird (a). Volksbefragungen sind Teil der Staatswillensbildung (b). Die Formen der Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung sind in Art. 7 Abs. 2 BV abschließend aufgeführt; ohne Änderung der Verfassung können neue plebiszitäre Elemente nicht eingeführt werden (c).

a) Das Wesen einer Demokratie liegt darin, dass die staatliche Herrschaft durch das Volk legitimiert ist; der Träger der Staatsgewalt ist das Volk. Hieraus folgt jedoch nicht, dass jegliches staatliche Handeln unmittelbar vom Volk selbst vorzunehmen ist. Die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung haben sich für eine repräsentative Demokratie entschieden, in der das Volk bei der Ausübung der Staatsgewalt durch das Parlament sowie durch die mittelbar oder unmittelbar von diesem bestellten Vollzugsbehörden und Richter repräsentiert wird.

Der in der Bayerischen Verfassung angelegte Grundsatz der repräsentativen Demokratie wird ergänzt durch plebiszitäre Elemente. In Art. 7 Abs. 2 BV sind mit Volksbegehren und Volksentscheiden die direkten Mitwirkungsmöglichkeiten auf Landesebene angesprochen, die sich – von der durch das Volk initiierten Abberufung des Landtags (Art. 18 Abs. 3 BV) abgesehen – auf die Gesetzgebung (Art. 72 ff. BV) beschränken.

b) 88a LWG führt mit der Volksbefragung ein weiteres plebiszitäres Element im Bereich der Exekutive ein. Die Durchführung einer solchen Volksbefragung stellt einen Akt der Staatswillensbildung dar.

Sie ist abzugrenzen von einer demoskopischen Erhebung. Wie die Meinungsumfrage zielt auch die Volksbefragung auf die Ermittlung eines Stimmungsbildes in der Wahlbevölkerung. Beiden Instituten ist gemeinsam, dass ihr jeweiliges Ergebnis keine rechtsverbindlichen Wirkungen entfaltet. Gleichwohl kann die Volksbefragung nicht als bloßes Mittel zur Meinungsforschung eingeordnet werden. Bei einer Volksbefragung steht der amtliche Charakter im Vordergrund. Sie ist ein nach gesetzlichen Vorgaben organisierter Urnengang, bei dem alle wahlberechtigten Staatsbürgerinnen und -bürger zur Abstimmung aufgerufen sind. Bereits das BVerfG hat die Auffassung vertreten, die Teilnahme an konsultativen Volksbefragungen sei als Teilhabe an der Staatsgewalt zu qualifizieren. Auch rechtlich unverbindliche konsultative Volksbefragungen eröffnen dem Staatsvolk eine aktive Mitwirkung an der Staatswillensbildung [red. Hinweis: BVerfG, Urt. v. 30.07.1958 – BVerfGE 8, 104, 114 f. und Ls. 5].

c) Die Formen der Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung sind in 7 Abs. 2 BV abschließend aufgeführt; ohne Änderung der Verfassung können neue plebiszitäre Elemente nicht eingeführt werden.

Für den Bereich des staatlichen Regierungshandelns, auf den sich Art. 88a LWG bezieht, sieht die Bayerische Verfassung keine unmittelbare Beteiligung des Volkes vor. Im Gegensatz zur gesetzgebenden Gewalt, die dem Volk und der Volksvertretung zusteht, liegt die vollziehende Gewalt in den Händen der Staatsregierung und der nachgeordneten Vollzugsbehörden. Art. 88a LWG steht im Widerspruch zur bestehenden Systematik der plebiszitären Elemente in der Bayerischen Verfassung, die insbesondere in Art. 7 Abs. 2 BV zum Ausdruck kommt. Als neuartiges Instrument der unmittelbaren Demokratie, das die geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen zur Staatswillensbildung modifiziert, hätte die Einführung von Volksbefragungen einer Verankerung in der Bayerischen Verfassung bedurft.

Zu keiner anderen Beurteilung führt der Einwand, von konsultativen Volksbefragungen könne keine nachhaltige Einwirkung auf das in der Verfassung angelegte Macht- und Kräfteverhältnis ausgehen; zudem habe die angegriffene Regelung nur einen engen Anwendungsbereich.

Die Möglichkeit, gemäß Art. 88a LWG Volksbefragungen durchzuführen, ist geeignet, den politischen Handlungsspielraum der zuständigen Organe faktisch einzuschränken.

Eine Volksbefragung findet statt, wenn Landtag und Staatsregierung dies übereinstimmend beschließen. Damit liegt es zwar im politischen Ermessen dieser Staatsorgane, ob eine bestimmte Thematik überhaupt an das Volk herangetragen wird. Allein durch die Existenz des Instruments kann jedoch in der Bevölkerung eine Erwartungshaltung geschaffen werden, die Volksbefragungen insbesondere bei kontrovers diskutierten Vorhaben des Staates mit landesweiter Bedeutung, mag deren absolute Zahl auch nur gering sein, zur Regel werden lässt. Wird einer solchen Stimmungslage nicht Rechnung getragen und keine Volksbefragung durchgeführt, setzen sich die für die Einleitung einer Befragung zuständigen Organe dem Vorwurf aus, den Willen des Volkes als Souverän zu ignorieren.

In noch stärkerem Umfang ergeben sich entsprechende Konsequenzen aus dem Ergebnis einer durchgeführten Volksbefragung. Zwar ist das jeweilige Resultat für Landtag und Staatsregierung rechtlich nicht bindend. Gleichwohl erscheint es kaum vorstellbar, dass die zuständigen Organe einem durch das Volk geäußerten Willen nicht folgen. Wer die Bürger in einer wahlrechtsähnlichen Weise an die Urne gerufen hat, wird sich über das dabei bekundete Votum nur schwer hinwegsetzen können.

Wird der vom Volk geäußerte Wille durch die Staatsregierung umgesetzt, verbreitert die vorangegangene Befragung die Legitimationsgrundlage der getroffenen Entscheidung und verleiht der Entscheidungsfindung besondere Dignität und Akzeptanz; insoweit wird die Stellung der Staatsregierung gestärkt.

Die angegriffene Regelung beschränkt sich damit nicht auf eine bloße Präzisierung oder geringfügige Ergänzung der bestehenden plebiszitären Ordnungsstrukturen der Bayerischen Verfassung. Vielmehr erweitert sie das Staatsgefüge um ein neues Element der direkten Demokratie, das geeignet ist, das von der Verfassung vorgegebene Kräfteverhältnis der Organe und ihre Gestaltungsspielräume zu beeinflussen. Das Volk wird in größerem Umfang an der Staatswillensbildung beteiligt, als es verfassungsmäßig bestimmt ist. Damit verbunden ist eine Stärkung des Gedankens der unmittelbaren Demokratie zulasten des in der Bayerischen Verfassung angelegten Grundsatzes der repräsentativen Demokratie und damit auch zulasten der Bedeutung der alle fünf Jahre stattfindenden Landtagswahlen. Diese Verschiebung im fein austarierten staatsorganisationsrechtlichen System darf ohne Verfassungsänderung nicht vorgenommen werden.

2. Einer Verankerung konsultativer Volksbefragungen unmittelbar in der Bayerischen Verfassung selbst stünde das sich aus Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV ergebende Verbot von Verfassungsänderungen, die den demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen, grundsätzlich nicht entgegen. Wie eine entsprechende Regelung verfassungspolitisch einzuordnen wäre, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu bewerten.

BayVerfGH, Pressemitteilung v. 21.11.2016 zur Entscheidung v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 und Vf. 8-VIII-15

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