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EuGH: Im Bereich grenzüberschreitender sozialer Vergünstigungen kann ein Kind in einer neu zusammengesetzten Familie als Kind des Stiefelternteils angesehen werden

In diesem Bereich wird das Kindsverhältnis nicht im rechtlichen Sinne, sondern im wirtschaftlichen Sinne definiert, womit das Kind eines Stiefelternteils, der berufstätiger Grenzgänger ist, Anspruch auf eine soziale Vergünstigung hat, wenn dieser Stiefelternteil tatsächlich zu seinem Unterhalt beiträgt.

Zwischen Juli 2013 und Juli 2014 konnten nach luxemburgischem Recht Kinder von Grenzgängern, die in Luxemburg unselbständig oder selbständig beruflich tätig sind, eine finanzielle Studienbeihilfe unter der Voraussetzung beantragen, dass der Grenzgänger zum Zeitpunkt der Antragstellung mindestens fünf Jahre lang ununterbrochen in Luxemburg gearbeitet hatte[1].

Frau Noémie Depesme, Herr Adrien Kauffmann und Herr Maxime Lefort leben jeder in einer neu zusammengesetzten Familie, die jeweils aus ihrer genetischen Mutter und ihrem Stiefvater[2] besteht (der genetische Vater lebt entweder von der Mutter getrennt oder ist verstorben). Alle drei beantragten für das Studienjahr 2013/2014 in Luxemburg Studienbeihilfen, weil ihr jeweiliger Stiefvater dort seit mehr als fünf Jahren ununterbrochen gearbeitet hatte (keine der Mütter arbeitete hingegen zu dieser Zeit dort). Die luxemburgischen Behörden lehnten diese Anträge mit der Begründung ab, dass Frau Depesme, Herr Kauffmann und Herr Lefort rechtlich nicht „Kinder“ eines berufstätigen Grenzgängers seien, sondern nur „Stiefkinder“.

Gegen diese Entscheidungen erhoben die drei Studenten Klage. Die mit diesen Klagen befasste Cour administrative du Luxembourg (Verwaltungsgerichtshof Luxemburg) hat daraufhin dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob im Bereich sozialer Vergünstigungen der Begriff „Kind“ auch Stiefkinder einschließen muss. Anders gesagt geht es um die Frage, ob das Kindsverhältnis nicht im rechtlichen, sondern im wirtschaftlichen Sinne aufzufassen ist.

In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass nach einer Unionsverordnung, nämlich der Verordnung Nr. 492/2001[3], Arbeitnehmer aus einem Mitgliedstaat in jedem anderen Mitgliedstaat, in dem sie arbeiten, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießen müssen. Er führt weiter aus, dass auf dem Gebiet der Unionsbürgerschaft Kinder durch eine Unionsrichtlinie, nämlich die Richtlinie 2004/38[4], definiert werden als die Verwandten in gerader absteigender Linie des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Dabei ergibt sich aus der Entwicklung der Unionsvorschriften, dass die Familienangehörigen, denen mittelbar die Gleichbehandlung nach der Verordnung Nr. 492/2011 zugutekommen kann, die Familienangehörigen im Sinne der Definition dieses Begriffs in der Richtlinie 2004/38 sind. Nichts lässt nämlich darauf schließen, dass der Unionsgesetzgeber in Bezug auf Familienangehörige eine strikte Unterscheidung zwischen den jeweiligen Anwendungsbereichen der Richtlinie 2004/38 und der Verordnung Nr. 492/2011 treffen wollte, kraft derer die Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie 2004/38 nicht zwangsläufig dieselben Personen wären wie die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, wenn dieser in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer im Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 492/2011 gesehen wird.

Der Gerichtshof schließt daraus, dass die Kinder des Ehegatten oder des anerkannten Lebenspartners eines Grenzgängers als dessen Kinder angesehen werden können, um in den Genuss einer sozialen Vergünstigung wie einer Studienbeihilfe kommen zu können, zumal eine weitere Unionsrichtlinie[5], die nach den hier streitigen Fällen in Kraft getreten ist, bestätigt, dass der Begriff „Familienangehörige“ auch die Familienangehörigen von Grenzgängern erfasst.

Zu der Frage, inwieweit der berufstätige Grenzgänger zum Unterhalt eines Studenten, zu dem er keine rechtliche Bindung hat, beitragen muss, führt der Gerichtshof aus, dass nach der Rechtsprechung die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, einer tatsächlichen Situation entspringt[6] und dass dies auch für den Beitrag eines Ehegatten zum Unterhalt seiner Stiefkinder gilt. Somit kann der Beitrag zum Unterhalt des Kindes durch objektive Gesichtspunkte wie die Ehe, eine eingetragene Partnerschaft oder auch eine gemeinsame Wohnung nachgewiesen werden, und zwar ohne hierfür ermitteln zu müssen, aus welchen Gründen der berufstätige Grenzgänger zu diesem Unterhalt beiträgt oder auf welche genaue Höhe sein Beitrag zu beziffern ist[7].

EuGH, Pressemitteilung v. 15.12.2016 zum Urt. v. 15.12.2016, verb. Rs. C-401/15 bis C-403/15 (Noémie Depesme u. a. / Ministre de l’enseignement supérieur et de la recherche)


[1] Um die Frage, ob dieses Erfordernis eines ununterbrochenen Mindestarbeitszeitraums von fünf Jahren, das aufgrund des Urteils des Gerichtshofs vom 20.06.2013 in der Rechtssache Giersch u. a. (C-20/12, vgl. PM Nr. 74/13) eingeführt worden war, im Hinblick auf das Unionsrecht diskriminierend ist, ging es in der Rechtssache Bragança Linares Verruga u. a. (C-238/15), in der der Gerichtshof sein Urteil am gestrigen 14.12.2016 verkündet hat (vgl. PM Nr. 133/16). Nach Ansicht des Gerichtshofs stellt diese Voraussetzung eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, da sie nicht erforderlich erscheint, um das von Luxemburg verfolgte legitime Ziel (nämlich die Erhöhung des Bevölkerungsanteils der in Luxemburg ansässigen Hochschulabsolventen zu fördern) zu erreichen. Es ist darauf hinzuweisen, dass das luxemburgische Gesetz nach den streitigen Fällen in diesem Punkt später geändert worden ist: Seit dem Gesetz vom 24.07.2014 reicht es aus, dass der Grenzgänger in dem Zeitraum von sieben Jahren vor der Beantragung der Beihilfe fünf Jahre lang in Luxemburg gearbeitet hat.

[2] Unter Stiefvater ist hier der Mann zu verstehen, der sich vom genetischen Vater unterscheidet und den die Mutter entweder geheiratet hat oder mit dem sie eine der Ehe gleichwertige eingetragene Partnerschaft eingegangen ist. Im gleichen Sinne ist hier unter dem Ausdruck „Stiefkind“ das Kind zu verstehen, dessen genetische Mutter einen anderen Mann als den genetischen Vater geheiratet hat oder mit diesem eine der Ehe gleichwertige eingetragene Partnerschaft eingegangen ist.

[3] Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).

[4] Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35).

[5] Richtlinie 2014/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.04.2014 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern im Rahmen der Freizügigkeit zustehen (ABl. 2014, L 128, S. 8).

[6] Urteil des Gerichtshofs vom 18.06.1985, Lebon (C-316/85).

[7] Es ist darauf hinzuweisen, dass Luxemburg seit dem 24.07.2014 das streitige Gesetz geändert hat und nunmehr ausdrücklich vorsieht, dass die Kinder berufstätiger Grenzgänger Studienbeihilfen unter der Voraussetzung erhalten können, dass der Grenzgänger weiterhin zum Unterhalt des Studenten beiträgt. Das luxemburgische Gesetz definiert jedoch nicht ausdrücklich, was unter „Kind“ zu verstehen ist.