Zugleich Anmerkung zur Entscheidung des BayVerfGH v. 15.02.2017 zum Volksbegehren „Nein zu CETA!“ (Vf. 60-IX-16)
von Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, München
1. Der Ausgangsfall
Der BayVerfGH hat am 15.02.2017 entschieden, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung des Volksbegehrens „Nein zu CETA!“ nicht gegeben sind. Mit diesem Volksbegehren sollte die Bayerische Staatsregierung angewiesen werden, im Bundesrat gegen das Zustimmungsgesetz zum „Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen“ zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten andererseits zu stimmen. Dieses Volksbegehren war auf Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BV gestützt, der mit Wirkung zum 01.01.2014 in die Bayerische Verfassung eingefügt worden war. Der Absatz 4 Satz 2 dieses Artikels hat folgenden Wortlaut: „Ist das Recht der Gesetzgebung durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union betroffen, kann die Staatsregierung in ihren verfassungsmäßigen Aufgaben durch Gesetz gebunden werden“.
Der BayVerfGH verneint das Vorliegen dieser Voraussetzungen. Denn im Falle von CETA gehe es nicht um die Abstimmung im Bundesrat über ein Gesetzesvorhaben, das ausdrücklich auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union durch ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG gerichtet ist. Zugleich meldet der Verfassungsgerichtshof Zweifel an der Vereinbarkeit des Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BV mit dem Grundgesetz an, und zwar ausdrücklich im 2. Leitsatz dieser Entscheidung. Allein um diese Zweifel, die über den konkret zu entscheidenden Fall hinausreichen, soll es im Folgenden gehen.
2. „Zweifel“ des BayVerfGH
Zunächst ist es unter dem Aspekt der Professionalität bemerkenswert, solche Zweifel an der Grundgesetzkonformität, deren abschließender Klärung es auch nach der Auffassung des BayVerfGH im vorliegenden Verfahren nicht bedurfte, in einem eigenen Leitsatz zu formulieren. Relativ knapp fällt auch der Begründungsaufwand in den Entscheidungsgründen aus: Der Bundesrat sei vom Grundgesetz (insbes. durch Art. 51 GG) als Kammer der Landesregierungen ausgestaltet; diese exekutivische Struktur des Bundesrates schließe es aus, dass der Landesgesetzgeber oder das Landesvolk zu einem Hineinwirken in die Entscheidungen des Bundesrates befugt seien. Zur weiteren Abstützung dieser Ansicht wird auf ein sehr frühes Urteil des BVerfG vom 30.07.1958 (BVerfGE 8, 104 ff.) verwiesen. Nach dieser Entscheidung des BVerfG ist es nach der „Struktur des Bundesrates“ ausgeschlossen, dass den Mitgliedern der Landesregierungen im Bundesrat eine Instruktion „durch das Landesvolk“ in der Weise erteilt wird, „dass sich die Vertreter im Bundesrat daran orientieren und sie zur Richtschnur ihres Handelns im Bundesrat machen…“. Da dieses Problem auch nach Auffassung des BayVerfGH keiner „abschließenden Erörterung“ bedurfte, ist gegen die Knappheit dieser Ausführungen an sich nichts einzuwenden.
3. Argumentation mit Art. 51 GG
a) Die auf 51 GG gestützte Auffassung erweist sich allerdings bei näherer Prüfung des Verhältnisses der Verfassungsordnungen im föderalen Mehrebenensystem als unzutreffend. Ob und inwieweit Beschlüsse des Landtages (bzw. des Landesvolkes) bindende Wirkung gegenüber der Landesregierung entfalten, ist ausschließlich eine Frage des Landesverfassungsrechts. Die Länder verfügen über eine eigene Verfassungshoheit, regeln also das verfassungsrechtliche Verhältnis der Verfassungsorgane des Landes zueinander eigenständig. Grenzen für die verfassungsgebende Gewalt der Länder ergeben sich aus der Bundesverfassung allein auf Grund der sog. Homogenitätsklausel im Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG, nicht aber aus den grundgesetzlichen Bestimmungen, die sich ausschließlich mit der Struktur und den Zuständigkeiten eines Bundesverfassungsorgans befassen, wie bspw. Art. 51 GG. Die sog. Homogenitätsklausel besagt, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats i.S.d. Grundgesetzes entsprechen muss (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Die nähere Ausgestaltung des demokratischen und parlamentarischen Systems auf der Länderebene und damit auch der parlamentarischen Abhängigkeit und Verantwortlichkeit der Landesregierungen ist eine Frage des Landesverfassungsrechts. Bundesverfassungsrechtliche Vorgaben sind in diesem Bereich grundsätzlich nicht gegeben. Landespolitische und landesverfassungsrechtliche Hintergründe der Stimmabgabe im Bundesrat sind auf der anderen Seite bundesverfassungsrechtlich irrelevant (siehe Sondervotum Osterloh, Lübbe-Wolff, BVerfGE 106, 350). Eine irgendwie geartete Durchgriffswirkung des Art. 51 GG auf das Landesverfassungsrecht ist nicht gegeben.
b) 51 GG besagt, dass der Bundesrat aus Mitgliedern der Regierungen der Länder besteht. Daraus kann man schließen, dass die Mitglieder des Bundesrates nicht Träger eines freien und unabhängigen Mandats sind, anders als die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Für die Mitglieder des Bundesrates gilt danach der Grundsatz der Weisungsunabhängigkeit nicht, was sich auch aus dem Umkehrschluss aus Art. 53a Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 und aus Art. 77 Abs. 2 Satz 3 GG ergibt. Art. 51 Abs. 3 GG besagt ferner, dass die Stimmen eines Landes nur einheitlich und nur durch anwesende Mitglieder abgegeben werden können. Von Bundesverfassungs wegen entscheidend ist allein, wie die anwesenden Mitglieder abstimmen und dass sie einheitlich abstimmen. Selbst wenn sie etwa einer „Weisung“ ihrer Landesregierung in Gestalt eines Kabinettsbeschlusses oder einer Richtlinienentscheidung des jeweiligen Ministerpräsidenten zuwider stimmen, der möglicherweise nach dem jeweils maßgeblichen Landesrecht Vorrang oder Bindungswirkung zukommt, liegt ein bundesverfassungsrechtlich zulässiges und gültiges Abstimmungsverhalten des betreffenden Bundeslandes vor.
Im Übrigen wird durch die hier diskutierten Beschlüsse der Landesparlamente (bzw. des Landesvolkes) die bundesverfassungsrechtliche Norm des Art. 51 GG schon deshalb nicht berührt, weil derartige Beschlüsse unmittelbar nicht an die Mitglieder des Bundesrates, sondern an das Landesverfassungsorgan „Landesregierung“ gerichtet sind. Landesverfassungswidriges Abstimmungsverhalten der Mitglieder des Bundesrates hat in keinem Fall bundesverfassungsrechtliche Wirkungen. Etwaige Sanktionen können sich nur auf der Ebene der Landesverfassung ergeben.
c) Dass Landtagsbeschlüsse, die die Landesregierung landesverfassungsrechtlich binden, mit unverzichtbaren Grundsätzen des parlamentarischen Systems der Gewaltenteilung unvereinbar seien, so dass eine derartige Bindungswirkung wegen der Homogenitätsklausel des 28 Abs. 1 Satz 1 GG auf der Länderebene nicht eingeführt werden dürfte, ist ebenfalls nicht begründbar. Man kann in diesem Zusammenhang ferner darauf hinweisen, dass auch das BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung für die Bundesebene und die hier geltende Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages bindende Beschlüsse des Parlaments in Richtung auf das Abstimmungsverhalten im Rat der EU ausdrücklich gefordert hat (vgl. etwa BVerfGE 123, 267, 351; 414, 416).
d) Nicht tragfähig ist auch der Einwand, auf diese Weise erhielte die Legislative der Länder Einfluss auf die Gesetzgebung des Bundes, was die bundesstaatliche Ordnung und die von ihr verfügte vertikale Gewaltenteilung durchbräche (so Korioth, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 51 Rn. 25). Es ist zu berücksichtigen, dass der Bundesrat auf Grund der Europäischen Integration eine zusätzliche, neuartige Funktion erlangt hat: Durch den Bundesrat wirken die Länder – also nicht speziell die Landesregierungen – auch in Angelegenheiten der Europäischen Union mit (Art. 50, Art. 23 Abs. 2 GG). Welches Verfassungsorgan des Landes in welchem Fall welchen Einfluss hat, bestimmt im Hinblick auf die landesinterne Willensbildung aber allein das Landesverfassungsrecht.
Niemand wird bspw. in Bezug auf das Verhältnis der Europäischen Union zu den Mitgliedsstaaten auf den Gedanken kommen, die nach deutschem Verfassungsrecht vorgesehenen Beteiligungen des Bundestages und des Bundesrates nach Art. 23 Abs. 2 bis 5 GG und die damit verbundenen parlamentarischen Einwirkungen auf das Abstimmungsverhalten des deutschen Vertreters im Rat seien europarechtswidrig, nur weil der Rat nach dem vorrangigen europäischen Primärrecht ein Organ der Europäischen Union ist, das aus Vertretern der mitgliedsstaatlichen Exekutiven besteht.
4. Schlussbemerkung
Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BV gehört die genaue Analyse des Verhältnisses der Verfassungsordnungen im föderalen Mehrebenensystem; ein vordergründiger, auf Art. 51 GG gestützter „Schnellschuss“ wird dem nicht gerecht. Ganz allgemein sei die Anmerkung gestattet, dass die Verfassungen der Bundesländer so ausgestaltet sein sollten, dass auch in den Ländern das System der parlamentarischen Demokratie gewahrt und gesichert ist. Den veränderten Bedingungen eines zunehmenden Prozesses der Verlagerung von Rechtsetzungsgewalt auf die Europäische Union auch im Bereich ursprünglicher Landeshoheit und dem für die parlamentarische Demokratie unverzichtbaren Primat des Landesgesetzgebers ist durch veränderte Mitwirkungsrechte des Landesgesetzgebers bei der Integrationsgesetzgebung Rechnung zu tragen (siehe Papier, Zur Verantwortung der Landtage für die europäische Integration, ZParl 2010, S. 903 ff.).
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Anmerkung der Redaktion
Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2010 Präsident des BVerfG, von 1998 bis 2002 dessen Vizepräsident. Er ist emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Deutsches und Bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht sowie öffentliches Sozialrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München.