Gesetzgebung

Der Gesetzentwurf zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen – Wider rechtsstaatliche Kernsätze des Polizeirechts

Foto zur Bayerischen Polizeirechtsnovelle - Haltekelle, Blaulichtvon Dr. Martin Heidebach, Ludwig-Maximilians-Universität München

Zwei der rechtsstaatlichen Kernsätze des Polizeirechts lauten: Der Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis ist unzulässig und Eingriffe in die Grundrechte der Bürger erfordern (zumindest im Regelfall) eine konkrete Gefahr. Wird der vom 21.02.2017 datierende Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung zur Änderung des Polizeirechts Gesetz, dann gelten diese beiden Kernsätze in Bayern nicht mehr. Darüber hinaus regelt der Gesetzentwurf, der sich derzeit in der Verbändeanhörung befindet, dass polizeiliche Präventivhaft künftig zeitlich unbegrenzt angeordnet werden kann. Im Folgenden werden besagte grundlegende Reformen des bayerischen Polizeirechts kurz vorgestellt. Anschließend wird begründet, weshalb der Gesetzesvorschlag gegen Grundgesetz und EMRK verstößt.

I. Der Entwurf der Bayerischen Staatsregierung

Der Gesetzentwurf enthält eine Vielzahl an Neuerungen und Erweiterungen polizeilicher Befugnisse. Nicht eingegangen werden soll hier auf die viel diskutierte Einführung einer Rechtsgrundlage für die elektronische Fußfessel und die neuen Möglichkeiten der Datenerhebung. Herausgegriffen werden zwei besonders gravierende Änderungsvorschläge:

1. Zum einen wird die Generalklausel um den Begriff der „drohenden Gefahr“ erweitert. Der Gesetzestext des neuen Art. 11 Abs. 3 PAG lautet:

„Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auch treffen, wenn im Einzelfall

  1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, oder
  2. Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen,

dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entsteht (drohende Gefahr), (…).“

Bei einer solchen drohenden Gefahr sind nicht nur atypische Maßnahmen auf der Grundlage der Generalklausel möglich; praktisch alle Standardbefugnisse werden um dieses Tatbestandsmerkmal ergänzt. Bei „drohender Gefahr“ soll die Polizei auch die Befugnisse haben für die Identitätsfeststellung, die erkennungsdienstlichen Maßnahmen, den Platzverweis, die neu in das Gesetz aufgenommenen Maßnahmen des dauerhaften Aufenthalts- und Kontaktverbots für einen Zeitraum bis zu sechs Monaten sowie die Durchsuchung. Darüber hinaus soll die drohende Gefahr für den Präventivgewahrsam genügen. Für diesen besonders schwerwiegenden Eingriff muss sich die drohende Gefahr auf einen Katalog konkret benannter Rechtsgüter beziehen; ausreichend für den Präventivgewahrsam ist allerdings schon die drohende Gefahr für „Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhalt im öffentlichen Interesse geboten erscheint.“ Maßnahmen wie die Identitätsfeststellung können bereits dann angeordnet werden, wenn die Gefahr der „Begehung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder Straftaten“ droht.

2. Zum anderen wird in der Befugnisnorm für die Präventivhaft – die jetzt auch bei drohender Gefahr angeordnet werden kann – die zeitliche Obergrenze gestrichen. Die polizeiliche Präventivhaft soll damit nach der Vorstellung des Gesetzentwurfs keinem materiell-rechtlich vorgegebenen Limit mehr unterliegen; die Dauer der Haft soll der entscheidende Richter im Einzelfall in eigener Verantwortung festlegen.

II. Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz im Allgemeinen

Nach dem Gesetzesvorschlag soll der Polizei schon bei lediglich drohender Gefahr praktisch das gesamte Befugnis-Arsenal zur Verfügung stehen. Der Verstoß dieser Regelung gegen die Grundrechte des Grundgesetzes ist offensichtlich.

Zunächst ist die irreführende Terminologie des Gesetzentwurfs zu erläutern: „Drohende Gefahr“ klingt fast gefährlicher als „konkrete Gefahr“. Gemeint ist aber ein Sachverhalt, in dem gerade noch keine konkrete Gefahr zu erkennen ist. Es geht also darum, die polizeilichen Befugnisse in das Vorfeld einer konkreten Gefahr auszudehnen. Nach der bisherigen polizeilichen Dogmatik wird grundlegend zwischen abstrakter Gefahr und konkreter Gefahr differenziert. Der zentrale Unterschied liegt darin: Bei der konkreten Gefahr ist damit zu rechnen, dass ein bestimmter Schaden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit eintreten wird; zur Verhinderung solcher konkreter Gefahren sind der Polizei Grundrechtseingriffe auf Basis der Standardbefugnisse oder der Generalklausel erlaubt. Eine abstrakte Gefahr ist hingegen bereits dann anzunehmen, wenn sich aus einer Sachlage nach allgemeiner Lebenserfahrungen konkrete Gefahren ergeben können. Abstrakte Gefahren genügen in der Regel nicht, um in die Grundrechte eingreifende Einzelmaßnahmen zu rechtfertigen; derartige Gefahrenlagen führen lediglich zur Zuständigkeit der Polizei. Abgesehen von Sonderbereichen wie der Gefahraufklärung ist im Hinblick auf die eigentliche Gefahrenabwehr bislang die Dichotomie von konkreter und abstrakter Gefahr völlig anerkannt. Die neu eingeführte „drohende Gefahr“ lässt sich deshalb nur als eine Form der abstrakten Gefahr einordnen. Damit verwirft der Gesetzesvorschlag den ehernen Grundsatz, dass aus der polizeilichen Aufgabe nicht schon die Befugnis für Grundrechtseingriffe folgt.

Diese Änderung der polizeilichen Generalklausel würde deshalb zu einer massiven Verschiebung der Tektonik von Freiheit und Sicherheit führen – zu Lasten der Freiheit. Eingriffe in die Grundrechte durch die Polizei wären in Bayern nicht mehr – wie bisher in der Regel – nur unter den dogmatisch gesicherten Voraussetzungen einer konkreten Gefahr zulässig, sondern allgemein schon im Fall einer vage definierten Form der abstrakten Gefahr. Die Gesetzesbegründung grenzt an dieser Stelle an Neusprech, wenn es heißt, es handle sich um eine „moderate, von den Voraussetzungen her eng begrenzte Arrondierung des polizeilichen Gefahrenbegriffs“.

Angesichts dieser verharmlosenden Worte ist noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, dass es hier nicht um ein Spiel mit Begriffen und Kategorien geht, die beliebig austauschbar sind. Vielmehr ist die Abwehr einer konkreten Gefahr der legitime Zweck, der einen Grundrechtseingriff i.S.d. Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtfertigen kann. Im Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit ist die konkrete Gefahr der Grund, weshalb in einer bestimmten Situation die grundrechtlich geschützte Freiheit zu Gunsten der Sicherheit zurücktreten muss; im Übrigen genießt aber die Freiheit Vorrang. Eine solche einigermaßen klar definierte Schwelle für Grundrechtseingriffe ist eine wertvolle rechtsstaatliche Errungenschaft.

Auf das damit zusammenhängende Gebot klar definierter gesetzlicher Spezialermächtigungen war man in Bayern übrigens immer besonders stolz; den Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis hielt man eher für eine preußische Erfindung. Die Ablehnung des „preußischen Modells“ geht sogar so weit, dass in Bayern teilweise immer noch ein eigenständiger „Bayerischer Prüfungsaufbau“ im Polizeirecht vertreten wird, aus dem die Trennung von Aufgabe und Befugnis besonders deutlich hervorgeht (dieser Aufbau ist freilich überholt, weil sich die Unterscheidung in Zuständigkeit und Rechtsgrundlage heute im allgemeinen Prüfungsaufbau widerspiegelt). Die Verwässerung der begrenzenden Funktion der Befugnisnormen durch die Einführung der Kategorie der „drohenden Gefahr“ ist damit ein klarer Bruch mit einer bayerischen rechtsstaatlichen Tradition, die sich bis zum Polizeistrafgesetzbuch des Jahres 1861 zurückverfolgen lässt.

Eine geradezu dreiste Irreführung ist es, dass die Gesetzesbegründung behauptet, die Rechtsprechung des BVerfG zum BKA-Gesetz aus dem Jahr 2016 legitimiere diese Neuregelung. Die entscheidende Passage des Urteils, auf die sich die Gesetzesbegründung beruft, lautet:

„Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen aber nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche mit dem Ziel schon der Straftatenverhütung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert.“ (Rn. 112)

Selbst bei isolierter Betrachtung tragen diese Aussagen die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen nicht. Vielmehr ergibt sich daraus, dass Grundrechtseingriffe im Regelfall eine konkrete Gefahr voraussetzen, der Gesetzgeber aber ausnahmsweise von diesem „tradierten sicherheitsrechtlichen Modell“ abrücken darf. Keinesfalls kann man aus den Worten des BVerfG schließen, der Polizei dürften praktisch alle Befugnisse im Vorfeld einer konkreten Gefahr zur Verfügung gestellt werden.

Bestätigt wird dieses Verständnis des BKA-Urteils, wenn man die Aussagen – anders als die Gesetzesbegründung – im Zusammenhang liest; in derselben Randnummer heißt es nämlich etwas später:

„In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft durch lang geplante Taten von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, können Überwachungsmaßnahmen auch dann erlaubt werden, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird.“

Das BVerfG hat also lediglich entschieden, dass die Absenkung der Gefahrenschwelle für Überwachungsmaßnahmen zulässig sein kann. In der traditionellen polizeirechtlichen Diktion kann man diese Maßnahmen auch als Gefahrerforschungseingriffe bezeichnen. Genuin gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen wie Platzverweis, Sicherstellung oder Präventivhaft dienen nicht der Gefahraufklärung. Eine verfassungsrechtliche Billigung der Absenkung der Gefahrenschwelle für diese Maßnahmen ist dem Urteil des BVerfG zum BKA-Gesetz nicht zu entnehmen. Im Übrigen ist auch fragwürdig, ob die Identitätsfeststellung eine reine Überwachungsmaßnahme in diesem Sinne ist. Die Gesetzesbegründung betont vor allem deren abschreckende Wirkung:

„Die Identitätsfeststellung erweist sich in der Praxis als äußerst wirksames Instrument der polizeilichen Gefahrenabwehr, nachdem von der Verwirklichung gefährlicher Handlungen in der Regel bereits dann Abstand genommen wird, wenn die handelnde Person weiß, dass ihre Identität der Polizei bekannt ist.“

Abgesehen davon ist darauf hinzuweisen, dass es im BKA-Urteil um die Bekämpfung von Terrorismus ging. Das BVerfG bezeichnet es als Besonderheit der Entscheidung, „dass es sich nicht um Normen handelt, die in ihrer Eingriffswirkung mit großer Streubreite gleichsam die gesamte Bevölkerung betreffen“ (Rn. 101). Dem bayerischen Gesetzesvorschlag ist hingegen keine Begrenzung auf drohende terroristische Gefahren zu entnehmen. Für die Identitätsfeststellung, die wie beschrieben nach der Vorstellung der Gesetzesbegründung auch einen Abschreckungseffekt erzeugen soll, genügt bereits die drohende Gefahr „der Begehung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder Straftaten“. Auf dieser Rechtsgrundlage könnte man beispielsweise jeden Samstag in den bayerischen Fußballstadien die Identität aller Ultra-Fußballfans feststellen; das „individuelle Verhalten“ (= die Zugehörigkeit zur Ultra-Bewegung) dürfte eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Begehung von Straftaten wie Beleidigung oder Körperverletzung indizieren.

Für die Präventivhaft ist der Katalog der Rechtsgüter, für die eine drohende Gefahr bestehen muss, zwar enger gefasst; dazu gehört aber auch die sexuelle Selbstbestimmung. Bislang ist nicht bekannt, dass – jedenfalls in Deutschland – Terroristen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung planen. Allerdings besteht die weit verbreitete Meinung, dass Menschen, die in der Vergangenheit bestimmte Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen haben, dazu neigen, ihre Taten in der Zukunft zu wiederholen. Hier könnte dann die zeitlich unbegrenzte Präventivhaft zur Anwendung kommen. Zynisch könnte man sagen, dass die Bayerische Staatsregierung eine alte Forderung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder aufgreift: „Sexualstraftäter wegschließen – und zwar für immer“.

Hätte sich die Bayerische Staatsregierung tatsächlich mit der Rechtsprechung des BVerfG auseinander gesetzt, so hätte man von den Änderungsvorschlägen Abstand nehmen müssen: Das BVerfG hat sich in den Jahren nach 9/11 in einer ganzen Reihe von Entscheidungen als Verteidiger der Freiheitsrechte erwiesen. Übergriffigem Verhalten durch sicherheitspolitisch motivierte Eingriffsmaßnahmen hat das BVerfG stets deutliche Grenzen gesetzt (z.B. in den Entscheidungen Präventive Telekommunikationsüberwachung, Rasterfahndung, Kontostammdaten, Online-Durchsuchung, Kfz-Kennzeichenerfassung, Vorratsdatenspeicherung). Es ist ausgeschlossen, dass der bayerische Gesetzgeber mit dem dargestellten Gesetzesvorschlag in Karlsruhe durchkommen würde, es sei denn, das BVerfG würde seine Rechtsprechung fundamental ändern (wofür es keine Anhaltspunkte gibt).

III. Präventivhaft verstößt gegen Grundgesetz und EMRK

Besonders gravierend ist die Neuregelung der Präventivhaft. Deshalb soll deren Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht noch einmal besonders hervorgehoben werden. Künftig würde schon eine „drohende Gefahr“ genügen, um aus präventiven Gründen in Haft genommen zu werden. In Kombination mit der Streichung der zeitlichen Beschränkung der Haft würde in Bayern damit das Guantanamo-Szenario eintreten: unbeschränktes Einsperren potenziell gefährlicher Personen.

1. Grundgesetz

a) Unverhältnismäßigkeit der Präventivhaft bei drohender Gefahr

Die Unverhältnismäßigkeit dieser Regelung im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG liegt auf der Hand. In der Gesetzesbegründung wird darauf verwiesen, dass die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall durch den Richtervorbehalt sichergestellt sei. Das ist im Grunde richtig, vermischt aber die verschiedenen Dimensionen des Grundrechtsschutzes. Materiell schützt Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG den Betroffenen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Erfordernis, die Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung klar zu regeln. Durch den Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 GG führt die Verfassung nach dem Prinzip „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ eine zusätzliche Sicherung ein. Wenn aber dem Richter nur vage materiell-rechtliche Vorgaben („drohende Gefahr“) an die Hand gegeben werden und er zugleich dem Druck einer durch Terrorangst verunsicherten Gesellschaft ausgesetzt ist: Wird er einen Antrag auf Präventivhaft wegen drohender Gefahr jemals ablehnen? Und wird er einen Betroffenen, nachdem er ihn einmal einsperren hat lassen – jemals wieder freilassen? Der angesprochene Druck wird bereits durch die Gesetzesbegründung ausgeübt; dort wird die Forderung erhoben: „(B)ei massiven Gefährdungslagen (muss) als ultima ratio künftig aber auch die Ingewahrsamnahme möglich sein“. Ist damit die allgemeine terroristische Bedrohungslage gemeint, die dann ein Vorgehen gegen eine Vielzahl von verdächtigen Personen legitimieren soll?

Natürlich ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Staates, zu verhindern, dass Bürger Opfer von Sexualstraftaten oder terroristischen Anschlägen werden. Aber auch Menschen, die ihr Leben in einer Zelle verbringen müssen, obwohl sie niemals eine solche Tat begehen würden, sind Opfer. Diese unbequeme Wahrheit wird oft aus der Betrachtung ausgeklammert. Deshalb ist auch die Argumentation gefährlich, es treffe ja zumindest nicht die völlig Falschen. Das charakteristische an der Gefahrenabwehr ist, dass künftige Ereignisse verhindert werden sollen. Gefahrenabwehr setzt immer eine Prognose voraus, sie ist eine Wette auf die Zukunft. Denn es lässt sich niemals mit Sicherheit klären, ob ein Betroffener, der in Präventivhaft genommen wird, eine Tat begangen hätte. Ebenso bedenklich ist es, in diesem Zusammenhang von „Gefährdern“ zu sprechen oder – wie in der Gesetzesbegründung – davon, dass  die von den Betroffenen „ausgehende Gefahr (…) nach wie vor hoch ist“; mit dieser Begriffswahl wird suggeriert, dass bereits eine konkrete Gefahr vorliege. Das ist aber gerade nicht der Fall, sonst wäre die Erstreckung der Eingriffsbefugnisse in das Vorfeld der konkreten Gefahr nicht notwendig.

b) Verfassungswidrigkeit der Streichung der zeitlichen Obergrenze

Ein Verfassungsverstoß wäre schließlich in der Streichung der zeitlichen Obergrenze der Präventivhaft zu sehen. Zwar dürfte das Gericht die Freiheitsentziehung nach Art. 18 Abs. 3 Satz 3 PAG i.V.m. § 425 Abs. 1 FamFG maximal für ein Jahr anordnen. Die Verfahrensvorschriften des FamFG stehen aber einer unbegrenzten Wiederholung der Anordnung nicht entgegen (§ 425 Abs. 2 und 3 FamFG). § 425 FamFG enthält keine materiell-rechtliche Regelung der zeitlichen Begrenzung von Freiheitsentziehung (wozu der Bundesgesetzgeber bei landesrechtlichen Hafttatbeständen auch keine Kompetenz hätte), sondern lediglich eine verfahrensrechtliche Vorgabe hinsichtlich der erforderlichen Prüfungsintervalle durch einen Richter bei langdauernder Freiheitsentziehung.

In Bezug auf die neue Möglichkeit, Präventivhaft schon bei „drohender Gefahr“ anzuordnen, wird die Unverhältnismäßigkeit durch die fehlende zeitliche Obergrenze zusätzlich unterstrichen. Das BVerfG betont das „zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung“ bei längerdauernder Freiheitsentziehung (s. beispielsweise die Entscheidung zur Unterbringung in der Psychiatrie im Fall M.). Eine lediglich drohende Gefahr genügt nicht, um den schwerwiegenden Eingriff in das Freiheitsgrundrecht bei langanhaltender Freiheitsentziehung zu rechtfertigen.

Aber auch bei der traditionellen Präventivhaft zur Verhinderung einer konkreten Gefahr ist der Wegfall der zeitlichen Obergrenze verfassungsrechtlich problematisch. Die Frage der zeitlichen Limitierung polizeilicher Freiheitsentziehung wurde schon einmal in den 1990er Jahren diskutiert, als die damaligen 14-Tage-Obergrenzen in Bayern und Sachsen vor den Landesverfassungsgerichten (mit unterschiedlichem Erfolg) angegriffen wurden. In der polizeirechtlichen Literatur wurde damals argumentiert, dass sich aus Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG eine materielle Höchstfrist für Polizeigewahrsam ergebe: Auf der Grundlage allgemeinpolizeilicher Befugnisse dürfe eine Person nur bis Ende des Tages nach dem Ergreifen festgehalten werden. Diese Vorgabe normiere nicht nur den Zeitraum, in dem spätestens der Richter über die Freiheitsentziehung entscheiden müsse, sondern lege zugleich die absolute Obergrenze für rein polizeilichen Gewahrsam fest (z. B. Lisken, ZRP 1996, 332 ff.). Über diesen Zeitraum hinausgehender Präventivgewahrsam benötige eine spezielle gesetzliche Grundlage im Besonderen Sicherheitsrecht. Gestützt wird dieses restriktive Verständnis von Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG durch die historische Auslegung. Die besonderen Sicherungsvorschriften in Art. 104 GG resultierten aus den Erfahrungen mit willkürlicher „Schutzhaft“ in der Zeit des Nationalsozialismus; einige der Mitglieder des für das Freiheitsgrundrecht zuständigen Ausschusses im Parlamentarischen Rat waren sogar selbst in Haft gewesen. Die historische Auslegung spricht deshalb dafür, bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten von Art. 104 Abs. 2 GG stets der Variante den Vorzug zu geben, die die Freiheit stärker absichert. Die Befugnis für einen zeitlich unbegrenzten polizeilichen Gewahrsam verstößt damit gegen Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG.

2. EMRK

Es ist evident, dass eine Präventivhaft auf Grund nur „drohender Gefahr“ darüber hinaus gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstieße. Art. 5 Abs. 1 EMRK ist im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Vorgaben wesentlich strenger als Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Anders als das Grundgesetz enthält Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK einen abschließenden Katalog möglicher legitimer Zwecke, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen können. Zudem hat der EGMR den deutschen Polizeigewahrsam bereits mehrfach skeptisch beurteilt. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich die Präventivhaft allenfalls auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b EMRK stützen. In dem Urteil O. gegen Deutschland aus dem Jahr 2013 präzisiert der EGMR die daraus folgenden strengen Anforderungen für die Verhängung von polizeilicher Haft zur Verhinderung von Gefahren:

„’Verpflichtung’ nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b (muss) sehr eng eingegrenzt sein (…). Daraus folgt, dass die hier in Rede stehende Verpflichtung, friedlich zu bleiben und eine Straftat nicht zu begehen, nur dann ‚als spezifisch und konkret’ im Sinne dieser Konventionsbestimmung angesehen werden kann, wenn Ort und Zeitpunkt der bevorstehenden Begehung der Straftat sowie ihr potenzielles Opfer/ihre potenziellen Opfer hinreichend konkretisiert wurden. (…) Zusätzlich muss der Beschwerdeführer im Vorfeld seiner Ingewahrsamnahme die Erfüllung seiner Verpflichtung, den Frieden durch die Nichtbegehung einer spezifischen und konkreten Straftat zu wahren, versäumt haben. In Fällen, in denen es um eine derartige Pflicht geht, reicht es aus, wenn der Beschwerdeführer eindeutige und aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er seine Verpflichtung nicht erfüllen wird.“ (Rn. 93 f.; nichtamtliche Übersetzung des Bundesjustizministeriums)

Diese konventionsrechtlichen Anforderungen hat das BVerfG mittlerweile im Sinne seiner Görgülü-Rechtsprechung in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG inkorporiert. Damit sind alle staatlichen Stellen, einschließlich der Bayerischen Staatsregierung und des Bayerischen Landtags, gehalten, die restriktiven Vorgaben des EGMR für Präventivhaft zu befolgen. Die Definition der „drohenden Gefahr“ im neuen Art. 11 Abs. 3 PAG erfüllt diese Anforderungen nicht, denn weder Ort noch Zeitpunkt noch potenzielle Opfer einer bevorstehenden Straftat sind in diesem Fall hinreichend konkretisiert.

In der Entscheidung A. gegen Vereinigtes Königreich aus dem Jahr 2009 hat sich der EGMR zudem bereits mit der spezifischen Frage einer zeitlich unbegrenzten Freiheitsentziehung für Terrorverdächtige auseinandergesetzt. Dort erklärt der Gerichtshof diese Vorgehensweise ausdrücklich für mit Art. 5 Abs. 1 EMRK unvereinbar, weil sich hierfür in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK kein zulässiger Rechtfertigungsgrund finden lässt:

„The Court does not accept the Government’s argument that Article 5 § 1 permits a balance to be struck between the individual’s right to liberty and the State’s interest in protecting its population from terrorist threat. This argument is inconsistent not only with the Court’s jurisprudence under sub-paragraph (f) but also with the principle that sub-paragraphs (a) to (f) amount to an exhaustive list of exceptions and that only a narrow interpretation of these exceptions is compatible with the aims of Article 5.” (Rn. 171)

Es ist deshalb insgesamt vollkommen schleierhaft, wie die Gesetzesbegründung zu der Behauptung gelangt, der Gesetzesvorschlag sei „im Sinne der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG“. Im Gegenteil: Der Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK liegt auf der Hand.

IV. Fazit: Dieser Gesetzesvorschlag trägt zur Erosion des Rechtsstaats bei

Vor einigen Jahren hätte man nicht für möglich gehalten, in welchem Umfang als irreversibel angesehene Errungenschaften der westlichen Nachkriegsordnung (Demokratie, Menschrechte, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Rechtsstaatlichkeit etc.) sogar in einigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in Frage gestellt werden. Mit diesem Gesetzesentwurf trägt die Bayerische Staatsregierung zur Erosion des Rechtsstaats bei. Allein die Tatsache, dass ein solcher Vorschlag gemacht wird, ist deshalb ein verheerendes Signal. Dass die Aufregung darüber bislang verhalten ausgefallen ist, ist ebenfalls ein beunruhigendes Zeichen der Zeit.

Es bleibt zu hoffen, dass der verfassungs- und konventionswidrige Gesetzesvorschlag in dieser Form den Bayerischen Landtag nicht erreicht.

Net-Dokument: BayRVR2017031301 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und – nach Indexierung – i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar)

Titelfoto/-abbildung: (c) Picture Factory – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

Dr. Martin Heidebach ist Akademischer Rat und Habilitand am Institut für Politik und Öffentliches Recht der LMU München und hat zum Thema „Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung“ promoviert. Er unterrichtet das Polizeirecht im Examensvorbereitungsprogramm der LMU und kommentiert die Vorschriften zur Unterbringung und Freiheitsentziehung im Kommentar von Haußleiter zum FamFG. Der Beitrag erscheint parallel auf dem JuWiss-Blog.

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