Gesetzgebung

Bereichsspezifische Verbote der Gesichtsverhüllung als legitime Einschränkungen der Religionsfreiheit

von Prof. Dr. Christian Hillgruber, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

I. Religionsfreiheit und Zusammenhalt der Gesellschaft

Die verstärkte Präsenz des Islam in Deutschland ist eine Herausforderung für eine noch immer christlich geprägte Gesellschaft und ihr Selbstverständnis, das sich nicht zuletzt im Recht als der verbindlichen Ordnung für das gesellschaftliche Zusammenleben niederschlägt.

Bestimmte Erscheinungsformen des Islam lösen dabei ein Bedürfnis nach normativer Selbstvergewisserung der Gesellschaft aus, auch wenn es sich nicht um Massenphänomene handelt. Dazu gehört die Gesichtsverschleierung. In Deutschland – genaue Zahlen gibt es nicht – tragen gegenwärtig schätzungsweise 5.000 Frauen Niqāb.

In einer freiheitlichen Ordnung steht es grundsätzlich jedem frei selbst zu entscheiden, wie er sich kleidet. Folgt man dabei religiösen Bekleidungsvorschriften, so genießt diese Entscheidung den Schutz der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), ohne dass es dafür darauf ankäme, ob die gewählte Bekleidung als eine bloß empfohlene, gebräuchliche oder als religiös gebotene Handlungsweise angesehen wird.

Wo Freiheit herrscht, ist Raum für Vielfalt, die verstören kann. So viel sichtbare religiöse Vielfalt wie heute war noch nie. Sie ist aber, nimmt man diese Freiheitsgarantie ernst, natürlich für sich genommen kein Grund, vom Konzept der Religionsfreiheit abzugehen. Gerade in einer multireligiösen Gesellschaft muss vielmehr der Staat, um Heimstatt aller seiner Staatsbürger ohne Ansehen der Person zu sein und zu bleiben, jene religiöse Neutralität wahren, in der sich schlicht und einfach die von ihm garantierte Religionsfreiheit spiegelt.

Das bedeutet: Dass der Mehrheit einer Gesellschaft ein religiös motiviertes Verhalten oder Erscheinungsbild eines anderen Menschen fremd anmutet, ist für sich genommen noch kein hinreichender legitimer Grund, es zu verbieten. Religiöse Pluralität kann aber auch soziale Konflikte auslösen, die der Staat mit seinem Recht zu befrieden und zu schlichten hat. Das kann die Einschränkung von Religionsfreiheit notwendig machen und zugleich rechtfertigen.

Allerdings unterliegt das ohne Gesetzesvorbehalt garantierte Grundrecht der Religionsfreiheit nach der Rechtsprechung des BVerfG nur verfassungsimmanenten Schranken.[1] Das BVerfG hat eine Einschränkung jedenfalls dann für grundsätzlich erlaubt gehalten, wenn aus dem glaubensgeleiteten Verhalten „fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer erwachsen“. Diese Auffassung verdient Zustimmung; denn in die Religionsfreiheit sollte nach dem nachweisbaren Willen der Väter und Mütter des Grundgesetzes so wenig wie möglich, aber doch so viel wie zur Erhaltung des Gemeinwesens, d.h. aus religionsneutralen übergeordneten Gemeinwohlgründen, notwendig eingegriffen werden können.

Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist ein solcher Belang von Verfassungsrang, und eine Gesellschaft darf in den Grenzen des unabstimmbaren Wesens- oder Menschenwürdegehalts der Grundrechte demokratisch darüber entscheiden, wie sie zusammenleben will, und Störungen des so definierten Zusammenlebens auch dann abwehren, wenn sie aus der Ausübung von Religionsfreiheit hervorgehen.

In Frankreich ist man dabei so weit gegangen, die Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit generell zu verbieten. Dem liegt ein Konzept des „vivre ensemble dans la société“ zu Grunde, das aus der „fraternité“, dem dritten Eckpfeiler, auf dem die französische Republik ruht, allgemeine Anforderungen an die Mitglieder der französischen Gesellschaft hinsichtlich ihrer Bereitschaft zu offener Kommunikation ableitet. Der EGMR hat dieses Konzept zur Überraschung vieler für mit der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK vereinbar erachtet.[2]

Ob ein solches Konzept auch mit der grundgesetzlichen Religionsfreiheit vereinbar wäre, wird unterschiedlich beurteilt. Rechtspolitisch wird jedenfalls in Deutschland ein anderer Weg eingeschlagen. Man bewegt sich auf bereichsspezfische Verbote zu, mit denen – eine Mimik und Gestik einschließende – offene und nicht durch Gesichtsverschleierung eingeschränkte Kommunikation dort sichergestellt werden soll, wo sie entweder funktional unverzichtbar oder aus Sicherheitsgründen geboten erscheint.

II. Die vorgesehenen Rechtsänderungen und ihre verfassungsrechtliche Bewertung

In diese rechtspolitische Entwicklung fügt sich – neben dem Entwurf eines Bundesgesetzes „zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung“ (BT-Drs. 18/11180 v. 15.02.2017), das auf der Tagesordnung der 957. Bundesrats-Sitzung am 12.05.2017 steht – auch der Gesetzentwurf der Staatsregierung über Verbote der Gesichtsverhüllung in Bayern (LT-Drs. 17/16131 v. 28.03.2017) ein.

Er sieht zum einen Verbote der Gesichtsverschleierung für Beamte und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst vor, soweit nicht dienstliche Gründe eine solche erfordern. Von staatlichen Amts- und Funktionsträgern darf in der Tat grundsätzlich verlangt werden, dass sie bei Ausübung ihres Dienstes ihr Gesicht nicht verhüllen. Für die Funktionsfähigkeit der Verwaltung eines freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats ist eine vertrauensvolle, offene Kommunikation unverzichtbar, und zwar sowohl extern gegenüber dem Bürger als auch intern gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern. Die Religionsfreiheit der Amtswalter muss hier hinter den Belangen des Amtes zurücktreten. Das Amt ist nicht der Ort grundrechtlicher Selbstverwirklichung. Das vorgesehene Verbot findet daher in den Staatsstrukturprinzipien und in den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) als Rechtsgütern von Verfassungsrang eine hinreichende Legitimationsstütze. Hinzu kommt die Verpflichtung des Staates auf die Neutralität in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht, die keine andere als die einer Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität sein kann.

Vom Verbot der Gesichtsverschleierung soll darüber hinaus der gesamte Bereich des Bildungswesens erfasst werden. Dass die Schule zur Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG; Art. 130 Abs. 1 BV), der die Einführung in eine „Kultur der offenen Kommunikation“ in der „Schulgemeinschaft“ einschließt, auf einen in jeder Hinsicht uneingeschränkten wechselseitigen Austausch zwischen Lehrern und Schülern angewiesen ist, versteht sich von selbst. Ob ein allgemeines Gesichtsverschleierungsverbot auch zur Gewährleistung freier Forschung und Lehre an Hochschulen geboten ist, ist nicht in gleicher Weise zweifelsfrei, aber doch jedenfalls für bestimmte Lehrformate wie Seminare und für das Prüfungswesen (hier schon aus Gründen der Feststellung der Identität zur Verhinderung von Unterschleif) zu bejahen. Es ist zu begrüßen, dass nach der Begründung des Gesetzentwurfs „die Hochschule im Einzelfall oder in bestimmten Fallkonstellationen auch generelle Ausnahmen“ zulassen darf, „wenn dies unter Berücksichtigung der betroffenen Belange geboten ist“.

Der aus den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für Demokratie, Republik und Rechtsstaat folgende Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, der namentlich für das auf die Wahl bezogene Verfahren einschließlich der Ermittlung des Wahlergebnisses gilt, erfordert die Identifizierbarkeit der Mitglieder der Wahlorgane und deren unbehinderte Kommunikation. Dies rechtfertigt die vorgesehenen Änderungen in den einschlägigen Wahlgesetzen und Wahlordnungen.

Schließlich kann die Gesichtsverschleierung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit inakzeptabel sein. Das gilt namentlich für die Identitätsfeststellung, beim Wahlakt ebenso wie aus Gründen polizeilicher Gefahrenabwehr, was nunmehr in Art. 13 Abs. 2 Satz 1 PAG klargestellt werden soll.[3]

Nach dem Gesetzentwurf sollen die Gemeinden außerdem bei Vergnügungen und Ansammlungen zur Verhütung rechtswidriger Taten und zur Abwehr von Gefahren für Leben, Gesundheit, Freiheit, Sittlichkeit oder Sachgüter durch Verordnung oder Anordnung für den Einzelfall, bei erheblichen abzuwehrenden Gefahren auch außerhalb von Vergnügungen und Ansammlungen, das Verhüllen des Gesichts verbieten können (Art. 23b LStVG). Auch das ist angesichts des Gewichts der hier abstrakt oder konkret bedrohten Grundrechtsgüter – von der Sittlichkeit abgesehen – verfassungsrechtlich unbedenklich. 

III. Fazit: Gesichtsverschleierungsverbote zwischen Gefahrenvorsorge und Symbolik

Gegen das Gesetzesvorhaben wird sicherlich der Vorwurf erhoben werden, dass es sich um rein symbolische Gesetzgebung handle, da es, jedenfalls in Bayern, bisher keine unbewältigten Rechtspro­bleme durch Gesichtsverschleierung von Muslima gegeben habe.

Dem ist aber entgegenzuhalten, dass erstens kluge Gesetzgebung Vorsorge betreibt und nicht untätig bis zum ersten Auftreten eines Konfliktsfalls wartet und zweitens auch symbolische Gesetzgebung weder verfassungsrechtlich unzulässig noch sinnlos ist. Sie dient einer ebenso legitimen wie berechtigte Verhaltenserwartungen stabilisierenden normativen Selbstvergewisserung einer durch Zuwanderung im Wandel begriffenen Gesellschaft.

Net-Dokument: BayRVR2017051001 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar)

Titelfoto/-abbildung: (c) Natalya Korsak – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

Prof. Dr. Christian Hillgruber ist Direktor des Instituts für Kirchenrecht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

(Weitere) Beiträge des Autors: hier.

 

Redaktionelle Hinweise

  • Zum Wortlaut der durch den Gesetzentwurf geänderten Rechtsvorschriften: hier.
  • Verfahrensverlauf, ggfls. Beiträge und amtliche bzw. kommunale Stellungnahmen zum Gesetzentwurf auf einen Blick: hier.
  • Vorgangsmappe des Landtags: hier.
  • Zur Gesetzgebungsübersicht für den Freistaat Bayern: hier.

[1] BVerfGE 32, 98, 107 f. – Gesundbeter; 93, 1, 21 – Kruzifix.

[2] Siehe EGMR, S.A.S. contre France, Beschwerde Nr. 43835/11, Große Kammer, Urt. v. 01.07.2014, § 121: „[L]a Cour estime […]  que, dans certaines conditions, ce que le Gouvernement qualifie de « respect des exigences minimales de la vie en société » – le « vivre ensemble », […] – peut se rattacher au but légitime que constitue la « protection des droits et libertés d’autrui ». “

[3] Zu den im Einzelnen vorgesehenen Änderungen der Gesetzestexte vgl. hier.