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Rezension: Thießen, Der Richter im Rechtssystem – Probleme richterlicher Entscheidungsfindung am Beispiel von Verkehrs- und insbesondere Flughafenstreitigkeiten (Verlag der GUC, 2016)

Von Prof. Dr. Gerrit Manssen, Universität Regensburg

Jeder hat nach Art. 19 Abs. 4 GG Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, wenn er durch die öffentliche Hand (möglicherweise) in einem seiner Grundrechte verletzt wird. Insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat dabei die Aufgabe, den Rechtsfrieden zwischen Bürger und Staat möglichst wieder herzustellen. Bei Klagen von Anwohnern gegen Planfeststellungsbeschlüsse für größere Infrastrukturvorhaben (in der Vergangenheit etwa beim Ausbau der Flughäfen in Frankfurt a.M., München, Kassel-Calden) gelang eine solche Befriedung oft nicht. Die Klagen wurden regelmäßig abgewiesen oder brachten nur kleinere Korrekturen bzw. juristische „Ehrenrunden“, wenn es etwa wegen formeller Fehler zur Aufhebung kam, die in einem neuen Verfahren geheilt werden konnten. Das Hauptanliegen der Klägerseite, das meistens darin bestand, das Vorhaben möglichst endgültig zu verhindern, scheiterte regelmäßig. Läuft deshalb etwas falsch im deutschen Rechtssystem?

Die hier anzuzeigende Schrift, ein Sammelband mit Beiträgen von 12 Autoren, unternimmt den Versuch, Mängel bei der Gewährung von effektivem Rechtsschutz vor allem bei Flughafenstreitigkeiten aufzuzeigen oder sogar anzuprangern. Herausgeber der Schrift ist Friedrich Thießen, Professor für Bankwirtschaft und Finanzierung an der TU Chemnitz. Er beschreibt zu Beginn das Anliegen des Buches dahingehend, das „Richterverhalten“ in Prozessen zum Ausbau von Flughäfen zu untersuchen. Dabei sollen einerseits die „Zwänge“ aufgezeigt werden, denen Richter bei ihren Entscheidungen unterliegen, anderseits würden Richter aber möglicherweise „Zwänge“ nur vorschieben, um sich vor negativen Entscheidungen für die „staatliche“ Seite (also die Flughafenbetreiber und die Planfeststellungsbehörden) zu drücken. Hingewiesen werden soll auch auf die „Kollusion“ von Vorhabenträgern, Regierungen, Behörden und Parlamenten, die Flughafenausbauprojekte – so wohl die Auffassung des Herausgebers als auch mancher Autoren des Bandes – unter Missachtung von legitimen Interessen der Anwohner durchsetzen würden.

Der dann folgende Beitrag von Ludwig Gramlich hätte dem Herausgeber (und auch dem einen oder anderen Mitautor) aber bereits aufweisen können, dass er sich terminologisch und sachlich auf schwierigem Terrain befindet und die vom Herausgeber gewählte Terminologie aus juristischer Sicht unpassend ist. Denn um „Richterverhalten“ geht es gar nicht. Die Kontrolle von Planfeststellungsbeschlüssen sei – so zutreffend Gramlich – ein vor allem an objektiven Kriterien orientierter und mehrschichtig ablaufender Prozess. An ihm sind viele Stellen beteiligt, Vorhabenträger, Behörden, Verwaltungs-, Verfassungs- und Unionsgerichte. Manches mag verbesserungswürdig sein. So plädiert Gramlich mit guten Gründen für eine weniger an der Figur des subjektiven Rechts orientierte Kontrolle (Ausbau der Verbandsklagemöglichkeiten), für die Besetzung der Spruchkörper mit fachlich besonders qualifizierten Laienrichtern und für eine bessere und ehrlichere Verkehrspolitik. Für eine allgemeine Richterschelte sieht er jedoch – m. E. zu Recht – keinen Anlass.

Leider wird das fachliche Niveau des Beitrags von Gramlich von den weiteren Beiträgen oft nicht erreicht. Mancher Autor verlangt von der Verwaltungsgerichtsbarkeit das, was sie gerade nicht tun darf, sich nämlich auf die Seite der Kläger zu stellen. Andere werfen den Gerichten vor, einseitig zu Gunsten der öffentlichen Hand zu agieren. Beispielhaft sei auf den Beitrag von Klaus Haldenwang (immerhin Fachanwalt für Verwaltungsrecht) hingewiesen. In einem Beitrag mit vielen sachlichen, terminologischen und orthografischen Fehlern wird verlangt, der Richter solle sich notfalls aus „strikten Gesetzesbindungen“ (wohl die vom Herausgeber Thießen gemeinten „Zwänge“) lösen und den Anliegen von Klägern in Verwaltungsprozessen notfalls im Wege freier Rechtsschöpfung entsprechen. Vorgeworfen wird der Verwaltungsgerichtsbarkeit zudem ein eher oberflächiger und sorgloser Umgang mit den Interessen von Klägern. Man muss dem Autor Haldenwang erwidern: Die Sorgfalt, die er vom Gesetzgeber und von Richtern verlangt, sollte er zunächst bei der Anfertigung von eigenen Veröffentlichungen walten lassen. Sätze wie „Auch ein Zivilrichter muss in subjektiv geschützten Rechten verletzt sein“ (siehe S. 38, dort finden sich weitere teilweise völlig unverständliche Ausführungen wie „Auf die objektive Rechtslage kommt es in der verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzung nicht an.“) sollte man seinen Lesern vielleicht doch ersparen. Auch wenn es viele berechtigte Kritikpunkte gibt, die einen Prozessvertreter an der Art und Weise ärgern mögen wie Verfahren vor den OVG/VGH ablaufen: Kritik muss sachlich bleiben und sollte nicht in einem allgemeinen Rundumschlag gegen Richter und Gesetzgeber enden. Damit dient man der eigenen Sache letztlich nicht.

Auch bei den weiteren Beiträgen zeigt sich viel Frust, der bei den Autoren in rechtlichen Auseinandersetzungen um Flughafenprojekte als Prozessvertreter, als Kommunalpolitiker oder als Umweltaktivist entstanden ist. Die wesentlichen Vorwürfe sind folgende: Die Richter „glaubten“ immer den Behörden, die Gutachten der öffentlichen Hand seien „gekauft“ und oft rein interessengeleitet, sie würden von den Gerichten nicht hinreichend hinterfragt und geprüft und stellten sich später oft als falsch heraus; manche Senate seien mit politisch handverlesenen Richtern von der Politik nur errichtet worden, um Klagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse abzuweisen (so der frühere 11. Senat des HessVGH); die Anwohner würden vielfach schlicht hinters Licht geführt, indem ihnen zunächst Zusagen gemacht würden, die hinterher nicht eingehalten würden. Zu konstatieren sei ein teilweises perfides Zusammenspiel von Gewinninteressen und Politik.

In der Tat scheint es ein Problem zu sein, dass die Senate bei den OVG/VGH vielfach Gutachten und Prognosen prüfen müssen, die ihnen von den Betreibern vorgelegt werden, den Richtern aber eigentlich die Fachkompetenz fehlt, um Fehler zu erkennen. Auch ökonomisch ist die Betrachtung richtig, dass die vielen negativen externen Effekte von Flughäfen (vor allem Fluglärm und Verkehrsbelastung) an den Anwohnern „hängen“ bleiben, sie in ihrer Gesundheit schädigen und den Wert ihrer Grundstücke mindern, die Gewinne hingegen vor allem bei den Investoren landen und der von der Politik erhoffte volkswirtschaftliche Nutzen bei manchem Flughafenprojekt doch eher fraglich oder gar nicht erkennbar ist. Der Gesetzgeber ist zudem nicht um Waffengleichheit für mögliche Kläger gegen Planfeststellungsbeschlüsse bemüht. Das deutsche Planfeststellungsrecht ist durchzogen von engen Fristregelungen, Präklusionsbestimmungen, Verkürzungen des Rechtsschutzes sowie Heilungs- und Unbeachtlichkeitsregelungen, um erfolgreiche Anfechtungsklagen von Gegnern der Projekte möglichst auszuschließen.

Dies alles mag man beklagen, man muss es jedoch – anders als der Grundtenor der meisten Beiträge – gegenüber dem Gesetzgeber und der Politik tun und nicht die dritte Gewalt, also die Rechtsprechung und insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit oder gar die Richter selbst dafür verantwortlich machen. Die Gerichte sind weder unter fachlichen noch unter demokratischen Aspekten legitimiert, grundsätzliche Standortfragen für Infrastrukturprojekte zu beantworten. Ob eine weitere Startbahn für den Flughafen München gebaut werden soll, ob ein weiterer Ausbau des Rhein-Main-Flughafens noch vertretbar ist, ob der Flughafen Kassel-Calden gebraucht wird oder nicht, dies alles sind unternehmerische und politische Fragen, keine rechtlichen. Die Gerichte können letztlich nur über die Einhaltung des Verfahrens und grundsätzlicher materieller Vorgaben wachen. Insoweit muss man die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen die teilweise sehr pauschale Kritik in manchen Beiträgen doch in Schutz nehmen. Auch wenn man in Einzelfragen über vieles streiten kann: Überwiegend urteilen die Gerichte in einer Form, die dem Rechtsschutzauftrag des Art. 19 Abs. 4 GG gerecht wird und die es den Vorhabenträgern oft auch nicht leicht macht, ihre Projekte zu realisieren. Schaut man in das jüngst erschienene fast 900seitige Handbuch von Stüer/Probstfeld „Die Planfeststellung“, so bekommt man schnell einen Eindruck davon, dass trotz aller gesetzgeberischer Bemühungen um eine Beschränkung des Rechtsschutzes die Rechtsprechung in vielfältiger Weise versucht, auch Interessen von Anwohnern zu berücksichtigen und ihnen Geltung zu verschaffen.

Fazit: Der von Thießen herausgegebene Band enthält überwiegend einseitige Darstellungen der Problematik der Entscheidungsfindung in Flughafenprozessen. Gerade diese Einseitigkeit macht die Lektüre des Buches aber auch interessant. Wer „Munition“ für Kritik am deutschen Verwaltungsrechtsschutz sucht, kann sie in dem Band finden.

Friedrich Thießen (Hrsg.): Der Richter im Rechtssystem – Probleme richterlicher Entscheidungsfindung am Beispiel von Verkehrs- und insbesondere Flughafenstreitigkeiten; Verlag der GUC (Gesellschaft für Unternehmensrechnung und Controlling m.b.H.), Chemnitz/Lößnitz 2016, Fachbuchreihe 32, 174 S., kartoniert, € 19,90; ISBN 978-3-86367-049-8

Net-Dokument: BayRVR2017092701 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar)

 Titelfoto: (c) bogdanvija – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

Prof. Dr. Gerrit Manssen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht an der Universität Regensburg. Der Lehrstuhl ist u.a. eingebunden den Forschungsverbund „Immobilien- und Kapitalmärkte“ sowie das Institut für Immobilienwirtschaft IREBS (International Real Estate Business School). Die Forschungsinteressen des Lehrstuhls beziehen sich dabei insbesondere auf die Regulierung der Bodennutzung.

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