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EuGH (GA): Ein Minderjähriger, für den ein Unionsbürger nach der algerischen Regelung der Kafala die Vormundschaft übernommen hat, kann nicht als „Verwandter in gerader absteigender Linie“ dieses Unionsbürgers angesehen werden

Zwei im Vereinigten Königreich lebende Ehegatten französischer Staatsangehörigkeit haben bei den Behörden dieses Landes eine Einreiseerlaubnis für ein algerisches Kind, dessen Betreuung ihnen in Algerien nach den Regelungen der Kafala, einer Einrichtung des Familienrechts einiger Länder mit Korantradition, übertragen worden ist, als Adoptivkind beantragt. Das Kind war nach seiner Geburt verlassen worden. Die Vormundschaft über das Kind wurde dem Paar durch Entscheidungen der algerischen Behörden übertragen. Da die Behörden des Vereinigten Königreichs die Erteilung der Einreiseerlaubnis abgelehnt haben, wogegen das Kind die entsprechenden Rechtsmittel eingelegt hat, möchte der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom Gerichtshof zusammengefasst wissen, ob das Kind nach der Freizügigkeitsrichtlinie[1] als „Verwandter in gerader absteigender Linie“ der Personen angesehen werden kann, die seine Betreuung durch Kafala übernommen haben.

Die Richtlinie sieht zwei Wege vor, auf denen ein Kind, das kein Unionsbürger ist, in Begleitung von Personen, mit denen ein „Familienleben“ besteht, in einen Mitgliedstaat einreisen und sich dort aufhalten kann. Bei Verwandten in gerader absteigender Linie tritt die Fortsetzung des Familienlebens praktisch automatisch ein, während bei anderen Familienangehörigen, denen der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt oder mit denen er in häuslicher Gemeinschaft lebt, zuvor eine Würdigung der Umstände erforderlich ist.

In seinen heutigen Schlussanträgen nimmt Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona den Standpunkt ein, dass ein Kind, das nur unter der rechtlichen Vormundschaft eines Unionsbürgers im Einklang mit dem Rechtsinstitut der Kafala nach dem Recht Algeriens stehe, nicht als dessen Verwandter in gerader absteigender Linie im Sinne der Richtlinie anzusehen sei.

Der Generalanwalt legt dar, dass in Algerien die Kafala eine Form der Betreuung sei, bei der sich ein erwachsener Muslim um die Betreuung, die Erziehung und den Schutz eines Kindes kümmere, wobei er vorübergehend (bis zur Volljährigkeit des Kindes) die rechtliche Vormundschaft für es übernehme, ohne dass diese Form der Betreuung ein Verwandtschaftsverhältnis begründe oder mit einer Adoption gleichzusetzen sei, die in diesem Land ausdrücklich verboten sei. Außerdem könne die Kafala aufgehoben werden.

Sodann führt der Generalanwalt aus, dass der Ausdruck „Verwandter in gerader absteigender Linie“, der in der Richtlinie als eine besondere Unterkategorie des Begriffs „Familienangehöriger“ verwendet werde, ein autonomer Begriff des Unionsrechts sei, der in dessen Rahmen einheitlich auszulegen sei.

Anschließend legt der Generalanwalt dar, dass der Begriff der Verwandten in gerader absteigender Linie seiner Ansicht nach sowohl die leiblichen als auch die adoptierten Kinder umfasse, da die Adoption rechtlich gesehen in jeglicher Hinsicht als Eltern-Kind-Verhältnis im Sinne eines Abstammungsverhältnisses anzusehen sei. Wenn die Kafala als eine Form der Adoption anzusehen wäre, könnte das Kind demnach als Adoptivkind ein „Verwandter in gerader absteigender Linie“ der es aufnehmenden Personen werden. Der Generalanwalt meint allerdings, dass das wesentliche Merkmal, das die Adoption von der Kafala unterscheide, gerade das Abstammungsverhältnis sei. Während durch die Kafala kein Abstammungsverhältnis begründet werde, sei dies bei der Adoption immer der Fall. Zum selben Ergebnis führe die Untersuchung der verschiedenen einschlägigen internationalen Rechtsinstrumente[2], die zum einen die Adoption und zum anderen Maßnahmen zum Schutz von Kindern wie die Kafala regeln, ohne sie an irgendeiner Stelle gleichzusetzen. Zugleich stehe gerade das algerische Recht der Gleichstellung entgegen, weil es diese Form der Betreuung zulasse und zugleich die Adoption verbiete. Die Personen, die das Kind aufnähmen, erhielten lediglich die rechtliche Vormundschaft über es, aber die Kafala bewirke nicht, dass es zu ihrem Verwandten in gerader absteigender Linie werde. Dies schließe es indessen nicht aus, dass die Personen, die das Kind aufnähmen, nach der Begründung der Kafala beschlössen, es zu adoptieren, wenn sie es für sinnvoll hielten und das Recht des entsprechenden Landes es zulasse. Der Generalanwalt hebt hervor, dass diese Lösung, die in einigen Mitgliedstaaten eingeführt worden sei, es ermögliche, dass das letztendlich adoptierte Kind zum Verwandten in gerader absteigender Linie seiner Adoptiveltern werde und dann als solcher in den Mitgliedstaat, in dem diese ihren Wohnsitz hätten, einreisen und sich dort aufhalten könne.

Nichtsdestoweniger ist der Generalanwalt der Ansicht, dass das betreffende Kind als sonstiger „Familienangehöriger“ anzusehen sein könne, wenn die weiteren Voraussetzungen erfüllt seien und das in der Richtlinie vorgesehene Verfahren durchgeführt worden sei, wobei der Aufnahmemitgliedstaat nach Abwägung des Schutzes des Familienlebens und des Wohls des Kindes dessen Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften erleichtern müsse. Der Umstand, dass der Weg für die Verwandten in gerader absteigender Linie nicht gangbar sei, bedeute keine Einschränkung des Familienlebens – ein Recht, das in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt sei –, wenn die in der Richtlinie vorgesehene Alternative (die Erteilung der Erlaubnis nach der Überprüfung dessen, dass der aufenthaltsberechtigte Unionsbürger dem Kind Unterhalt gewähre oder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebe) es nicht verwehre, einen tatsächlichen rechtlichen Schutz des Familienlebens zu erreichen. Dabei müsse bei allen in Bezug auf das Kind getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen der Schutz des Kindeswohls Vorrang haben. Im Rahmen der Richtlinie könne dieser Schutz auch gewahrt werden, wenn der zweite Weg beschritten werde, der mit der Einführung eines Verfahrens der vorherigen Würdigung einen angemessenen rechtlichen Rahmen für einen wirksamen Schutz des Kindes in der Union biete und zugleich die ursprünglichen Ziele der Einrichtung der Vormundschaft (Kafala) mit dem Recht auf Familienleben in Einklang bringe.

Der Generalanwalt meint, dass die in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen (Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts des Familienangehörigen eines Unionsbürgers oder des Unionsbürgers selbst, Aufhebung oder Widerruf eines durch die Richtlinie verliehenen Rechts) angewandt werden könnten, wenn Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit oder Fälle von Rechtsmissbrauch oder Betrug vorlägen. Solche Umstände seien vorliegend aber nicht gegeben.

Schließlich weist der Generalanwalt darauf hin, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats in dem bei anderen „Familienangehörigen“ anzuwendenden Verfahren der vorherigen Würdigung der Umstände Nachforschungen dazu anstellen könnten, ob in dem Verfahren zur Übertragung der Vormundschaft oder des Sorgerechts das Kindeswohl hinreichend berücksichtigt worden sei.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 16 v. 26.02.2019 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rs. C-129/18 (SM / Entry Clearance Officer, UK Visa Section)


[1] Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

[2] Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption von 1993, Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern von 1996.