Rechtsprechung Bayern

BayVGH zur Beseitigungsanordnung

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Beseitigungsanordnung: Zulässigkeit der hilfsweisen Ergänzung des Ermessens durch die Bauaufsichtsbehörde für den Fall, dass der zugrundeliegende Bebauungsplan unwirksam ist

Dem unten vermerkten Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 14.5.2021 lag vereinfacht folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Bauaufsichtsbehörde (LRA) ordnete 2016 den teilweisen Rückbau eines im Geltungsbereich eines Bebauungsplans errichteten Gebäudes an, da das Gebäude teilweise den Festsetzungen des Bebauungsplans widerspreche. Die gegen die Rückbauanordnung erhobene Klage begründete der Eigentümer u.a. damit, dass der Bebauungsplan aus verschiedenen Gründen unwirksam sei. Das Verwaltungsgericht (VG) wies die Klage 2018 ab. Ende 2019 ließ der VGH die Berufung gegen das Urteil des VG zu. Das LRA ergänzte mit Schreiben vom 30.9.2020 das mit Bescheid aus 2016 ausgeübte Ermessen hilfsweise für den Fall, dass der Bebauungsplan unwirksam ist.

Es führte hierin umfangreich aus, warum die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens dann nicht nach § 34 BauGB, sondern nach § 35 BauGB zu beurteilen wäre und das Vorhaben auch nicht als sonstiges Vorhaben gemäß § 35 Abs. 2 BauGB zugelassen werden könnte, weil öffentliche Belange beeinträchtigt wären. Der VGH entschied, dass der Bebauungsplan unwirksam ist, wies die Berufung des Eigentümers aber dennoch zurück, da die Baumaßnahmen auch nach dem anzuwendenden § 35 BauGB unzulässig seien. Zur Frage der fehlerfreien Ausübung des Beseitigungsermessens durch die Bauaufsichtsbehörde führt der VGH aus: „Nach Art. 40 BayVwVfG ist das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens sind einzuhalten. Art. 76 BayBO dient dabei dem Zweck, illegal geschaffene Bausubstanz zu beseitigen und das betroffene Grundstück in den Zustand materieller Legalität zurückzuführen (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand Februar 2021, Art. 76 Rn. 12). Soweit die Bauaufsichtsbehörde bei einer Beseitigungsanordnung – wie hier – davon ausgeht, dass die zu beseitigende Anlage nicht in Übereinstimmung mit einem bestehenden Bebauungsplan errichtet wurde, der sich jedoch als unwirksam herausstellt, stellt dies zwar ein Ermessensdefizit dar, da die Behörde bei Erlass der Beseitigungsanordnung von falschen rechtlichen Voraussetzungen ausgeht (vgl. Decker a.a.O. Rn. 264) und damit einer rechtlich nicht existenten Vorschrift zur Geltung verhelfen will.

Damit konnte der Beklagte das Ermessen nicht entsprechend der gesetzlichen Ermächtigung ausüben (Art. 40 BayVwVfG). Allerdings kann die Behörde etwaige Begründungsfehler, zu denen auch Fehler in der Begründung des Ermessens gehören, bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BayVwVfG mit rückwirkender Kraft ergänzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.20111) –- 1 C 14.10 – BVerwGE 141, 253; …). So liegt der Fall hier. Der Beklagte hat mit Schreiben des Landratsamts vom 30.9.2020 das mit Bescheid vom 17.5.2016 ausgeübte Ermessen hilfsweise für den Fall, dass von der Unwirksamkeit des Bebauungsplans auszugehen sei, ergänzt und umfangreich ausgeführt, dass in diesem Fall die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens nicht nach § 34 BauGB, sondern nach § 35 BauGB zu beurteilen wäre und das Vorhaben auch nicht als sonstiges Vorhaben gemäß § 35 Abs. 2 BauGB zugelassen werden könnte, weil öffentliche Belange beeinträchtigt wären. Liegen wie im vorliegenden Fall die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Rückbauanordnung vor, dann muss die Behörde in der Regel nicht besonders begründen, weshalb sie von der Eingriffsbefugnis Gebrauch macht. Vielmehr genügt es, wenn sie zum Ausdruck bringt, dass der beanstandete Zustand wegen seiner Rechtswidrigkeit beseitigt werden muss. Nur in Ausnahmefällen können weitergehende Erwägungen erforderlich sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.4.1996 – 4 C 22.94 – juris Rn. 19; BayVGH, Beschluss vom 24.2.2005 – 1 ZB 04.276 – juris).

Der Beklagte hat ausdrücklich das öffentliche Interesse an der Herstellung baurechtmäßiger Zustände gegen das Interesse des Pflichtigen abgewogen und insbesondere im Hinblick auf die erteilte Baugenehmigung für eine unterkellerte Doppelgarage von einer vollständigen Beseitigung des Gebäudes abgesehen. Im Übrigen hat die Bauordnungsbehörde ihr Ermessen nicht ohne erkennbaren Grund unterschiedlich, systemwidrig oder planlos ausgeübt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.1998 – 4 B 99.98 – BauR 1999,734; BayVGH, Urteil vom 9.5.2018 – 1 B 14.2215 – BayVBl 2019, 23). Der Gleichheitssatz gebietet nicht, dass gegen unterschiedlich gelagerte Fälle in gleicher Weise vorgegangen werden muss. Geboten ist lediglich ein systemgerechtes Vorgehen, das auch vorliegt, wenn die Behörde gegen ,Schwarzbauten‘ gleichsam Schritt für Schritt vorgeht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.12.1990 – 4 B 184.90 – juris Rn. 4) Es ist daher nicht zu beanstanden, dass der Beklagte den Rückbau des Gebäudes gefordert hat.“ Die L a n d e s a n w a l t s c h a f t B a y e r n gibt zum Urteil des VGH folgende erläuternde unten vermerkte H i n w e i s e v o m 1 5 . 6 . 2 0 2 1 zur Problematik und zum möglichen prozessualen Vorgehen:

  1. Unwirksamkeit des Bebauungsplans als Prozessrisiko für die Bauaufsichtsbehörde

„Bauaufsichtsbehörden sind nicht selten mit dem Problem konfrontiert, dass von ihnen erlassene Baubeseitigungsanordnungen nach Art. 76 Satz 1 BayBO, die der Durchsetzung von Festsetzungen eines Bebauungsplans dienen, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit dem Vortrag angegriffen werden, der betreffende Bebauungsplan sei unwirksam. Da die Bauaufsichtsbehörden mangels Normverwerfungskompetenz grundsätzlich von der Gültigkeit eines Bebauungsplans auszugehen haben, die Verwaltungsgerichte aber zur inzidenten Überprüfung des Bebauungsplans verpflichtet sind, stellt sich die Frage, wie in solchen Fällen das Prozessrisiko der Bauaufsichtsbehörde reduziert werden kann, wenn die betreffende Grundstücksfläche ohne Bebauungsplan dem Außenbereich zuzuordnen wäre (z.B. bei Ortsrandlage). Denn eine Unwirksamkeit des Bebauungsplans wirkt sich auch auf die Grundlagen der Ausübung des Beseitigungsermessens aus. Geht die Bauaufsichtsbehörde bei einer Beseitigungsanordnung nämlich davon aus, dass die zu beseitigende Anlage nicht in Übereinstimmung mit einem bestehenden Bebauungsplan errichtet wurde, der sich jedoch als unwirksam herausstellt, so unterliegt sie einer Fehleinschätzung der Grundlagen ihrer Ermessensausübung in Gestalt eines Ermessensdefizits (vgl. Rn. 31 der vorliegenden Entscheidung sowie BayVGH, Urteil vom22.9.20152), Az. 1 B 14.1652, juris Rn. 32 f.; Decker in Busse/ Kraus, BayBO, 140. EL Februar 2021, Art. 76 Rn. 264).“

  1. Hilfsweiser Vortrag für den Fall der Unwirksamkeit des Bebauungsplans ist möglich

„Im vorliegenden Fall hat es der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) jedoch gebilligt, dass die Bauaufsichtsbehörde ihr mit der streitgegenständlichen Rückbauanordnung ausgeübtes Ermessen durch ein während des Berufungsverfahrens ergangenes Schreiben lediglich hilfsweise für den Fall ergänzt hat, dass der BayVGH den Bebauungsplan für unwirksam erachten und das Vorhabengrundstück dem Außenbereich zuordnen sollte. Der BayVGH ging zwar … tatsächlich von der Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans und dementsprechend einem Ermessensdefizit der Rückbauanordnung aus. Die Behörde könne aber etwaige Begründungsfehler, zu denen auch Fehler in der Begründung des Ermessens gehörten, nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BayVwVfG bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens mit rückwirkender Kraft ergänzen (vgl. Rn. 31 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 13.12.2011, Az. 1 C 14.10, juris und Urteil vom 5.5.1998, Az. 1 C 17.97, juris).

Der Beklagte habe nachträglich mit einem Schreiben des Landratsamts das mit dem streitgegenständlichen Bescheid ausgeübte Ermessen hilfsweise für den Fall ergänzt, dass von der Unwirksamkeit des Bebauungsplans auszugehen sei, sowie umfangreich ausgeführt, dass in diesem Fall die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens nicht nach § 34 BauGB, sondern nach § 35 BauGB zu beurteilen wäre und das Vorhaben auch nicht als sonstiges Vorhaben gemäß § 35 Abs. 2 BauGB zugelassen werden könnte, weil öffentliche Belange beeinträchtigt wären (vgl. Rn. 32). Dieser bauplanungsrechtlichen Beurteilung schloss sich der BayVGH … an, so dass die Anfechtungsklage gegen die Rückbauanordnung auch in der Berufungsinstanz erfolglos blieb.“

  1. Voraussetzungen für das Nachschieben von Gründen und Ermessenerwägungen im Prozess

„Nachdem der BayVGH in seinem Beschluss über die Zulassung der Berufung die Wirksamkeit des der Rückbauanordnung zugrundeliegenden Bebauungsplans in Zweifel gezogen hatte, empfahl die Landesanwaltschaft Bayern der Bauaufsichtsbehörde, die Ermessenserwägungen der Rückbauanordnung hilfsweise…nachzubessern. Dies ist unter bestimmten Voraussetzungen zulässig (vgl. dazu Riese in Schoch/ Schneider, VwGO, 39. EL Juli 2020, § 114 Rn. 253 ff.) und gemäß § 114 Satz 2 VwGO prozessual berücksichtigungsfähig. Neue Gründe für einen Verwaltungsakt dürfen nach dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht insbesondere nur dann nachgeschoben werden, wenn sie schon bei Erlass des Verwaltungsakts vorlagen, dieser nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (stRspr. – vgl. BVerwG, Urteil vom 20.6.2013, Az. 8 C 46.12, juris Rn. 32 m.w.N.).

Auch die formalen Anforderungen eines derartigen Nachschiebens von Ermessenserwägungen müssen strikt beachtet werden, um ermessensheilende Wirkung zu entfalten. Vor allem muss die Behörde bei einem Nachschieben während des gerichtlichen Verfahrens für den Betroffenen erkennbar trennen zwischen neuen Begründungselementen, die den Inhalt ihrer Entscheidung betreffen, und Ausführungen, mit denen sie lediglich als Prozesspartei ihre Entscheidung verteidigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2011, Az. 1 C 14.10, juris; BayVGH, Urteil vom 3.2.2015, Az. 10 B 14.1613, juris und Beschluss vom 13.5.2016, Az. 9 ZB 13.1991…). Ein förmlicher Ergänzungsbescheid ist hingegen nicht erforderlich. Es genügt vielmehr ein einfaches Schreiben der Behörde an den Kläger bzw. seinen Bevollmächtigten, das diesem allerdings zugestellt und anschließend in den Prozess eingeführt werden sollte (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, 140. EL Februar 2021, Art. 76 Rn. 466; Riese in Schoch/Schneider, VwGO, 39. EL Juli 2020, § 114 Rn. 267).“

  1. Formulierungsvorschläge der Landesanwaltschaft für die erforderlichen Schreiben im Berufungsverfahren

„Im vorliegenden Fall waren die durch ein Schreiben während des Berufungsverfahrens ergangenen hilfsweisen Ermessensergänzungen mit folgenden allgemeinen Ausführungen eingeleitet bzw. abgeschlossen worden: ,Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt XXX, wir nehmen Bezug auf das im Betreff genannte Berufungsverfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und unseren dort streitgegenständlichen Bescheid vom XXX, Az. XXX. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Nachschieben von Ermessenserwägungen i.S. des § 114 Satz 2 VwGO nicht nur unbedingt, sondern auch hilfsweise für den Fall des Eintritts bestimmter tatsächlicher oder rechtlicher Umstände möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.6.2013 – 8 C 46/ 12 – juris Rn. 29; Riese in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114 Rn. 267). Angesichts dessen ergänzen wir hiermit für den Fall, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im vorgenannten Berufungsverfahren den Bebauungsplan XXX der Gemeinde XXX für gesamtunwirksam erachten und das Grundstück Ihrer Mandantschaft (FlNr. XXX der Gemarkung XXX) dem Außenbereich zuordnen sollte, die Ermessenserwägungen unseres Bescheides vom XXX gemäß § 114 Satz 2 VwGO hilfsweise wie folgt: Im Falle der Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans wäre die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens Ihrer Mandantschaft nicht nach § 34 BauGB, sondern nach § 35 BauGB zu beurteilen …

Das Nachschieben der Erwägungen zur Unzulässigkeit des Gebäudes im Außenbereich führt zu keiner Wesensänderung des streitgegenständlichen Bescheides vom XXX. Denn die zentralen Erwägungen des vorgenannten Bescheides (Gebäude von der Baugenehmigung nicht gedeckt, keine nachträgliche Genehmigungsfähigkeit, vorsätzliche Verursachung eines unrechtmäßigen Zustands durch Weiterbau nach Baueinstellung sowie Nichtvorliegen gleichgelagerter Bezugsfälle) bleiben auch im Falle der Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans XXX der Gemeinde XXX und der Zuordnung des Grundstücks Fl.-Nr. XXX zum Außenbereich gleichermaßen gültig und sachlich tragfähig. Dieses Schreiben stellt keinen selbständigen Verwaltungsakt dar, weil es für das Nachschieben der vorstehenden, hilfsweisen Ermessenserwägungen keines formellen Ergänzungsbescheides bedarf; vielmehr ist die Schriftform ausreichend (Decker in Simon/Busse, BayBO, Art. 76 Rn. 466). Die hilfsweisen Ermessenserwägungen werden damit Bestandteil des Bescheides vom XXX.‘ Der Schriftsatz, mit dem dieses Schreiben in das Berufungsverfahren eingeführt wurde, war wie folgt formuliert: ,Wir übersenden in o.g. Sache das beigefügte Schreiben des Landratsamtes XXX vom XXX, mit dem die Ermessenserwägungen seines Bescheides vom XXX hilfsweise für den Fall ergänzt werden, dass der streitgegenständliche Bebauungsplan für unwirksam erachtet und das Vorhabengrundstück dem Außenbereich zugeordnet wird. Wir führen das Schreiben hiermit in das Berufungsverfahren ein. Es wurde dem Klägerbevollmächtigten am XXX zugestellt, wie sich aus dem beigefügten Empfangsbekenntnis ergibt.‘“

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 14.5.2021 – 1 B 19.2111

Hinweise der Landesanwaltschaft Bayern vom 15.6.2021 (www.landesanwaltschaft.bayern.de)

Erschienen in der FStBay 22/2021, Rn. 252.