Rechtsprechung Bayern

Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung bei Veranstaltungen

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Art. 8 GG; Art. 13 BayVersG; Art. 15 BayVersG (Negativer Feststellungsbescheid; Versammlungseigenschaft; Zeitpunkt; Gesamtgepräge; Klimacamp)

Nichtamtlicher Leitsatz:

Weist eine Veranstaltung Elemente auf, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung abzielen, und solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind („gemischte Veranstaltung“), ist der Charakter als Versammlung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 BayVersG in einer Gesamtschau nach ihrem Gesamtgepräge zu bestimmen.

BayVGH, Urteil vom 08.03.2022, 10 B 21.1694

Zum Sachverhalt:

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 6. November 2020, mit dem dieses auf die Klage der Klägerin den negativen Feststellungsbescheid der Beklagten vom 10. Juli 2020 aufgehoben hat. Darin hatte diese festgestellt, dass die zunächst mit E-Mail vom 30. Juni 2020 angezeigte und aufgrund weiterer Änderungsanzeigen, zuletzt vom 4. Juli 2020, modifizierte Veranstaltung zum Thema „Klimagerechtigkeit“ neben dem Rathaus der Beklagten in A (im Folgenden: „Klimacamp“), die dort seit dem 1. Juli 2020 stattfand, keine Versammlung im Sinne von Art. 8 GG mehr darstellt. Mit E-Mail vom 30. Juni 2020 zeigte die Klägerin gegenüber der Beklagten eine Versammlung mit dem Thema „Klimagerechtigkeit“ ab dem 1. Juli 2020 bis auf Weiteres auf dem A neben dem Rathaus der Beklagten an.

Dazu führte sie aus, dass das Kohleausstiegsgesetz der Bundesregierung die Zukunft zerstöre, und benannte als Kundgebungsmittel Transparente, Megafone, Kreide, eine Filmleinwand, Isomatten und eventuell auch Pavillons. Mit Bescheid vom 1. Juli 2020 bestätigte die Beklagte die Anzeige und verfügte eine Reihe von versammlungsrechtlichen Beschränkungen. Mit Bescheid vom 2. Juli 2020 traf sie weitere versammlungsrechtliche Beschränkungen. Am3. Juli 2020 verabschiedeten der Bundestag und der Bundesrat unter anderem das „Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohleverstromung und zur Änderung weiterer Gesetze (Kohleausstiegsgesetz)“.Daraufhin änderte die Klägerin mit E-Mail ebenfalls vom 3. Juli 2020 ihre Anzeige in zeitlicher Hinsicht („bis Sonntag“ – gemeint wohl: 05.07.2020 – Anm. d. Senats).Mit E-Mail vom 4. Juli 2020 modifizierte die Klägerin ihre Anzeige erneut in zeitlicher Hinsicht („bis mindestens Mittwoch“ – gemeint wohl: 08.07.2020 – Anm. d. Senats) und benannte weitere Kundgebungsmittel, namentlich Gehzeuge, Sofas, Tische und Stühle, Autoreifen und Schränke.

Mit Bescheid vom 6. Juli 2020 verfügte die Beklagte weitere versammlungsrechtliche Beschränkungen, insbesondere zu der Aufstellung der angezeigten Kundgebungsmittel. Am2., 3. und 5. Juli 2020 begannen beziehungsweise endeten auf dem A Aufzüge der Klägerin zu den Themen „Klimagerechtigkeit“ sowie „Mehr, bessere und sicherere Radwege“. Am 2. und 5. Juli 2020 organisierte sie zudem „Rathausbesetzungen“ und „Rathausblockaden“. Zu den Behördenakten gelangten in der Folge Auszüge von Social- Media-Seiten der Klägerin. In dem Auszug der Homepage der Klägerin zum Stand am 6. Juli 2020 wurde die Veranstaltung als „Rathausblockade“ bezeichnet, allerdings mit dem Zusatz „ab 1. Juli“, und folgendes Programm angekündigt:

–„Filmvorführungen …

– Dezentrale Kreideaktionen

– Workshops zur sicheren Kommunikation und Handyverschlüsselung

– Programmierworkshops für Neulinge

– Jonglierworkshops

– Workshops zu Parkour (der Sportart)

– Aktionstraining für andere Aktionen, Infoworkshops zum Versammlungsrecht

– Infos, wie sich die einzelnen Klimagerechtigkeitsbewegungen … organisieren und wie mensch mithelfen kann

– Auch Studierende werden da sein und wir freuen uns, euch Nachhilfe für die Schule zu geben! Insbesondere werden viele Mathematiker*innen dabei sein.

– Werwolf

– Wir gestalten die Blockade alle gemeinsam. Deine Workshopidee ist willkommen!“

Ein ebenfalls bei den Behördenakten befindlicher Ausdruck eines Twittereintrags der Klägerin am 3. Juli 2020 lautet: „Außerdem wird es weitere Workshops … geben“. Laut einem Auszug eines Facebookeintrags vom 5. Juli 2020 werden Musiker, darunter Sänger gesucht. Auszüge des Instagram-Accounts der Klägerin vom6. Juli 2020 zeigen Bilder von veganem Essen, vom Malen von Bannern, wobei ein Banner mit der Aufschrift „wir campen … Ihr handelt“ erkennbar ist, sowie vom Klimaturnen. Auf der Homepage https://a* …klimacamp.eu/ programm ist zudem das tagebuchartige Workshop- und Vortragsprogramm des Klimacamps einsehbar, aus dem hervorgeht, dass an dem Veranstaltungsort Unterschriften gesammelt wurden und Diskussionen mit Bundes- und Kommunalpolitikern sowie Vertretern der Stadtverwaltung der Beklagten stattfanden.

Mit streitbefangenem Bescheid vom 10. Juli 2020 stellte die Beklagte fest, dass die mit E-Mail vom 30. Juni 2020 angezeigte und aufgrund von Änderungsanzeigen, zuletzt vom4. Juli 2020, modifizierte Veranstaltung zum Thema Klimagerechtigkeit, die seit dem 1. Juli 2020 auf dem A stattfindet, keine Versammlung im Sinn von Art. 8 GG mehr darstellt. Gegen den negativen Feststellungsbescheid vom10. Juli 2020 hat die Klägerin am selben Tag Anfechtungsklage erhobenmit dem Antrag, diesen aufzuheben. Gleichzeitig hat sie beantragt, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage anzuordnen. Dem Eilantrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 17. Juli 2020 stattgegeben und die aufschiebende Wirkung der Klage der Klägerin angeordnet (Au 8 S 20.1186). In dem Klageverfahren legte die Beklagte mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 als Anlage B1 eine als „Dokumentation Klima- Camp“ der Polizei bezeichnete Tabelle mit Daten, Uhrzeiten und Aktivitäten am Veranstaltungsort vor.

Mit angegriffenem Urteil vom 6. November 2020 (Au 8 K 20.1179) hat das Verwaltungsgericht der Klage der Klägerin stattgegeben und den negativen Feststellungsbescheid der Beklagten vom 10. Juli 2020 aufgehoben. Der BayVGH hat mit Beschluss vom 16. Juni 2021 (10 ZB 20.2825) die Berufung zugelassen.

Lesen Sie den kompletten Beitrag in im BayVBl 14/2022.