Rechtsprechung Bayern

Klage auf Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung

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Dem unten vermerkten rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg (VG) vom 26.1.2022 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger begehrt als Anlieger von der Gemeinde als Straßenverkehrsbehörde die verkehrsrechtliche Anordnung eines absoluten Haltverbots sowie eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h in seiner Straße.

Die Straße ist eine Ortsstraße, welche von der Ortsdurchfahrtsstraße der Gemeinde abzweigt und nach ca. 900 m Länge in ein Waldgebiet mündet. Die Straßenbreite schwankt zwischen 5,90 m und 4,70 m. Über die Straße werden unter anderem ein Sportplatz samt Sporthalle und Sportheim, eine Grundschule, ein Freibad mit Cafe, eine Tennisanlage sowie am Ende der Straße ein Hotel samt Restaurant erschlossen. In der Straße gelten die innerorts höchstens zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h sowie ein beidseitiges eingeschränktes Haltverbot.

Die Gemeinde lehnte den Antrag des Klägers ab, da die maßgeblichen Lärmgrenzwerte nicht im Entferntesten überschritten würden. Das VG wies die daraufhin erhobene Verpflichtungsklage des Klägers ab und führte Folgendes aus:

1. Klagebefugnis des Straßenanliegers aus § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt, soweit er sich auf die auf sein Anwesen einwirkende Lärmbelastung durch den Verkehr in der … Straße beruft. Er verfügt diesbezüglich über die nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis, denn er hat möglicherweise einen Anspruch auf die von ihm geforderten Entscheidungen der Beklagten zum Schutz vor Lärm. Dieser Anspruch folgt aus § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Straßenverkehrsordnung (StVO), der nicht lediglich auf den Schutz der Allgemeinheit gerichtet ist, sondern daneben auch die Belange Einzelner schützt, soweit deren Individualinteressen berührt werden (BVerwG, Urteil vom 26.9.2002 – 3 C 9/02 – NJW 2003, 601).

Die insoweit durch das Bundesverwaltungsgericht verfolgte Rechtsprechung wird dem Schutzzweck des § 45 Abs. 1 StVO gerecht, der nicht lediglich die Wahrung der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG), sondern vorab bereits den Schutz vor Einwirkungen des Straßenverkehrs bezweckt, die das nach allgemeiner Anschauung zumutbare Maß übersteigen. Der Kläger kann daher geltend machen, möglicherweise Anspruch auf Schutz seiner Individualinteressen zu haben, wenn grundrechtsgefährdende oder billigerweise nicht mehr zuzumutende Verkehrseinwirkungen in Form von Lärm zu befürchten sind.

Zwar gewährt § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO grundsätzlich nur einen Anspruch auf eine ermessenfehlerfreie Entscheidung der Behörde über das Ergreifen lärmschützender verkehrsregelnder Maßnahmen. Jedoch kann sich im Einzelfall auch ein Anspruch des Bürgers auf eine konkrete Verkehrsregelung ergeben, insbesondere dann, wenn die Behörde bereits mit der Thematik befasst war und aus Sicht des Klägers unzureichende Maßnahmen getroffen hat.

Unter Zugrundelegung des umfangreichen Vortrags des Klägers zur Verkehrssituation in der…Straße besteht vorliegend die Möglichkeit, dass der Kläger als unmittelbar angrenzender Anwohner durch die Lärmbelastung in unzumutbarer Weise in seinen Rechten beeinträchtigt wird und Anspruch auf eine konkrete verkehrsregelnde Maßnahme hat. Hingegen vermag der Vortrag des Klägers zur Sicherheit des Verkehrs und der Verkehrsteilnehmer, insbesondere der Fußgänger und Grundschüler, der Problematik beim Abbiegen von größeren Fahrzeugen im Einmündungsbereich zur …Straße oder Stauungen vor dem Anwesen sowie Verstöße gegen das bestehende eingeschränkte Haltverbot keine Klagebefugnis des Klägers zu begründen. Denn hierbei handelt es sich um allgemeine verkehrliche Interessen, die auf die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zielen, die aber nicht den Kläger in eigenen oder zumindest drittschützenden Rechten betreffen. Gemäß § 42 Abs. 2 VwGO ist es dem Kläger verwehrt, sich als Statthalter für fremde Interessen zu betätigen.

2. Voraussetzungen für ein Tätigwerden der Straßenverkehrsbehörde nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO

Nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Die Verkehrsregelungen erfolgen aus immissionsschutzrechtlichen Gründen, jedoch geht es um die Abwehr verkehrsbezogener Gefahren, folglich muss der Emittent der Straßenverkehr sein. (…)

Diese Vorschrift gewährt Schutz vor Verkehrslärm und Abgasen, wenn der Lärm bzw. Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss. Ein Anspruch des Klägers auf (ermessensfehlerfreie) Entscheidung über lärmschützende verkehrsrechtliche Anordnungen setzt tatbestandlich zunächst voraus, dass sich der verkehrsbedingte Lärm über dem ortsüblich Zumutbaren bewegt (BayVGH, Urteil vom 21.3.2012 – 11 B 10.1657, BeckRS 2016, 25875, Rn. 32).

Bei der Prüfung, welcher Verkehrslärmschutz im Einzelfall rechtlich zulässig ist, ist auf die jeweilige gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit sowie das Vorhandensein bzw. Fehlen einer bereits gegebenen Lärmvorbelastung abzustellen. Die Grenze der zumutbaren Lärmbelastung, bei deren Überschreitung Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO in Betracht kommen, ist nicht durch auf Rechtsetzung beruhende Grenzwerte festgelegt (BayVGH, Urteil vom 12.4.20163) – 11 B 15.2180, BeckRS 2016, 45482 Rn. 21).

Zwar können die Vorschriften der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV) vom 12.6.1990 (BGBl I S. 1036) bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Lärmbelastung im Rahmen des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO nicht unmittelbar angewendet werden, denn bei § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO geht es um straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen des Lärmschutzes für bestehende Straßen (siehe zum Ganzen: BayVGH, Urteil vom 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 27).

Die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV können aber im Anwendungsbereich des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO als Orientierungspunkte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze, deren Überschreitung die Behörde zu Maßnahmen ermächtigt, herangezogen werden (so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 22.12.1993 – 11 C 45.92 – NZV 1994, 244; vgl. ferner BayVGH, Urteil vom 26.11.1998 – 11 B 95.2934 – juris; (…).

Denn die Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung bringen ganz allgemein die Wertung des Normgebers zum Ausdruck, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion, die zumindest auch dem Wohnen zu dienen bestimmt ist, anzunehmen ist. Eine Unterschreitung der Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung ist danach jedenfalls ein Indiz dafür, dass die Lärmbelastung auch die Zumutbarkeitsschwelle in straßenverkehrsrechtlicher Hinsicht nicht erreicht (BayVGH, Urteil vom 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 28). Anhaltspunkte für die Überschreitung des ortsüblich Zumutbaren sind aber dann gegeben, wenn die Grenzwerte der 16. BImSchV nicht nur unwesentlich überschritten werden (…).

Insoweit darf aber nicht übersehen werden, dass die Überschreitung dieser Richtwerte nach der Rechtsprechung nicht erst einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO auslöst, sondern bereits die Verdichtung des Ermessens der Behörde zu einer Pflicht zum Einschreiten zur Folge haben kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.6.1986 – 7 C 76/84, NJW 1986, 2655). Folglich ist die Erfassung der Verkehrslärmbelastung unter Heranziehung der Grenzwerte der § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV ein erster Anhaltspunkt.

Entnommen aus der Fundstelle Bayern 16/2022, Rn. 199.