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Ermessen bei bauordnungsrechtlichem Einschreiten

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§ 113 Abs. 1 Satz 1, § 114 Satz 1 VwGO, § 34 BauGB, § 6 BauNVO, Art. 55, Art. 57 Abs. 4, Art. 76 Satz 2 BayBO, Art. 37 Abs. 1, Art. 40, Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG

Anfechtungsklage; Nutzungsuntersagung; Unbestimmtheit der Baugenehmigung; Nichtigkeit der Baugenehmigung; Ermessen bei bauordnungsrechtlichem Einschreiten; Intendiertes Ermessen; Besondere Umstände

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 08.07.2022, Az. 15 B 22.772

Orientierungssätze der LAB:
  1. Ein rechtsfehlerhafter Gebrauch des Ermessens bei einer auf Art. 76 Satz 2 BayBO gestützten Nutzungsuntersagung kann dann vorliegen, wenn außergewöhnliche Umstände des Falles gegeben sind, die im Einzelfall trotz Baurechtswidrigkeit gegen eine Nutzungsuntersagung sprechen, diese aber im Rahmen des dann ausführlicher auszuübenden Ermessens nicht oder nicht mit dem gebotenen Gewicht berücksichtigt worden sind, obwohl sie der Behörde bekannt oder für diese zumindest erkennbar waren (Rn. 65).
  2. Die Bauaufsichtsbehörde trägt gerade wegen der Erteilung einer Baugenehmigung ohne konkrete Nutzungsbeschränkung jedenfalls eine Mitverantwortung für eine entstandene „Grauzone“ an tatsächlich vom Kläger ausgeübten Nutzungen, von denen nicht sicher geklärt werden kann, ob diese unter die legalisierende Wirkung des Genehmigungsbescheids fallen oder nicht. Sie müsste sich auch eine Nichtigkeit (Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG) der Baugenehmigung als mitverursacht zurechnen lassen, weil sie durch deren Erlass auch dem Bauherrn gegenüber den Rechtsschein einer weiten „Variationsbreite“ einer Gestattung und damit der formellen Legalisierung eines entsprechend breiten Nutzungsspektrums gesetzt hat (Rn. 66).
Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern

Das zuständige Landratsamt hat antragsgemäß eine Baugenehmigung für das Vorhaben „Lagerhalle mit Autopflegeraum und Ersatzteillager“ erteilt. Im Baugenehmigungsverfahren wurde keine Betriebsbeschreibung mit näherer Konkretisierung des Nutzungszwecks der Halle vorgelegt. Aufgrund einer Baukontrolle erließ dann das Landratsamt als zuständige Bauaufsichtsbehörde die streitgegenständliche, auf Art. 76 Satz 2 BayBO gestützte Nutzungsuntersagung, mit der dem Kläger die Nutzung des genehmigten Gebäudes für gewerbliche Tätigkeiten außerhalb der Autopflege untersagt wurde. In der Nutzungsuntersagung wurden exemplarisch die Nutzungen Reifenwechsel und -wuchten, Unfallinstandsetzung, Auto Glas Service, Chip-Tuning, Optisches Tuning, Reparaturen von Kraftfahrzeugen aufgeführt.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) kam zu dem Ergebnis, dass die Baugenehmigung unbestimmt (Art. 37 BayVwVfG) ist und von der inhaltlich weitreichenden Nutzungsuntersagung auch Tätigkeiten umfasst sind, die sich noch im Rahmen der Variationsbreite der – gerade aufgrund ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit – weit gefassten Baugenehmigung halten und daher nicht als formell illegal anzusehen sind (Rn. 57). Die Nutzungsuntersagung ist damit bereits teilweise nicht vom Tatbestand des Art. 76 Satz 2 BayBO gedeckt.

Offen gelassen hat der BayVGH letztlich, ob die Baugenehmigung nicht sogar nichtig (Art. 44 BayVwVfG) ist (Rn. 55-57).

Zudem leidet die Nutzungsuntersagung nach Auffassung des erkennenden Senats aus den folgenden Gründen an einem Ermessensfehler, der zu ihrer Gesamtrechtswidrigkeit führt (Rn. 60, 68):

Unabhängig von der Reichweite der Geltung der Grundsätze des sogenannten intendierten Ermessens sei der Bescheid schon deshalb ermessensfehlerhaft, weil er sich zur Rechtfertigung des bauordnungsrechtlichen Einschreitens auf unzutreffende materiell-rechtliche Erwägungen stützt. Die Grenzziehung zwischen formell legalen und formell illegalen Nutzungen sei falsch gezogen worden. Damit seien zum Teil Nutzungen untersagt worden, die formell legal sind, da beispielsweise der ebenfalls untersagte Reifenwechsel noch von der erteilten Baugenehmigung erfasst sein dürfte (Rn. 59, 63).

Ein Ermessensfehler sei zudem insbesondere darin zu sehen, dass der vorliegende Sachverhalt aufgrund besonderer, Vertrauensschutz begründender Umstände vom Standardfall eines bauordnungsrechtlichen Eingreifens abweicht, ohne dass sich die Bauaufsichtsbehörde mit diesen besonderen Umständen näher auseinandergesetzt habe (Rn. 64). Durch die Erteilung einer mit Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG nicht zu vereinbarenden Baugenehmigung habe das Landratsamt den bestehenden Zustand einer unklaren Genehmigungslage für ein gewerblich zu nutzendes Objekt – und damit auch eine unklare Rechtslage hinsichtlich der Abgrenzung der tatsächlich ausgeübten Nutzungen als formell illegal oder als noch von der Baugenehmigung gedeckt – mit zu verantworten (Rn. 66).

 

Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts.

 

 

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