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Bauordnungsrechtliches Einschreiten nach Eintritt der Baugenehmigungsfiktion

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Bauordnungsrecht: Zum Ermessen bei bauordnungsrechtlichem Einschreiten nach Eintritt der Baugenehmigungsfiktion aber vor Erteilung der Fiktionsbescheinigung nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO

Art. 59, Art. 68 Abs. 2, Abs. 6 Nr. 1, Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BayBO,
Art. 40, Art. 41 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2, Art. 42a, Art. 48 BayVwVfG

Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (präventives Bauverbot); Ermessen (bauordnungsrechtliches Eingreifen, intendiertes Ermessen – Sonderfall); Zeitpunkt der Bekanntgabe eines VA bei elektronischer Übermittlung; Baugenehmigungsfiktion im bayerischen Landesrecht; gesetzliche Pflicht zur Ausstellung der Fiktionseintrittsbescheinigung

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 07.11.2022, Az. 15 CS 22.1998

Leitsätze

1. Eine Genehmigungsfiktion gem. Art. 42a BayVwVfG tritt auch dann ein, wenn der Ablehnungsbescheid zwar tatsächlich innerhalb der Entscheidungsfrist kraft elektronischer Übermittlung zugeht, aber so spät abgesandt wurde, dass der Bekanntgabezeitpunkt gemäß Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG nach Fristende liegt.

2. Ist die Genehmigungsfiktion wegen Fristablaufs eingetreten, die Fiktionseintrittsbescheinigung aber noch nicht ausgestellt bzw. dem Bauherrn noch nicht zugegangen, ist im Rahmen des gem. Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 60 Abs. 6 Nr. 1 BayBO, Art. 40 BayVwVfG auszuübenden Eingriffsermessens ein bestehender Anspruch des Bauherrn auf Ausstellung der Bescheinigung zu berücksichtigen.

Hinweise

Durch das Gesetz vom 23.12.2020 (GVBl. S. 663) ist mit Wirkung ab 01.02.2021 in Art. 68 BayBO ein neuer Abs. 2 eingefügt worden, der unter bestimmten Voraussetzungen im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO eine Genehmigungsfiktion nach Art. 42a BayVwVfG regelt. Gleichzeitig wurde die bis dahin bei Erteilung einer Baugenehmigung ausgeschlossene elektronische Kommunikation nach Art. 3a BayVwVfG (Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 aF BayBO) zugelassen.

Der 15. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) befasst sich im vorliegenden Beschluss mit der Bekanntgabe eines elektronisch übermittelten Verwaltungsakts (Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG), dem Eintritt der Genehmigungsfiktion im Baurecht (Art. 68 Abs. 2, Abs. 6 BayBO) sowie deren Berücksichtigung im Rahmen bauordnungsrechtlichen Einschreitens (Baueinstellung, Art. 75 BayBO) aufgrund einer Baubeginnanzeige vor Ausstellung der Fiktionsbescheinigung (Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO, Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG).

I. Sachverhalt

Die Antragsgegnerin lehnte den Bauantrag der Antragstellerin auf Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit Tiefgarage wegen Verstoßes gegen bauplanungsrechtliche Vorschriften (§ 34 BauGB) ab und übermittelte den Ablehnungsbescheid am letzten Tag der Frist des Art. 68 Abs. 2 BayBO (Baugenehmigungsfiktion) vorab als pdf-Kopie elektronisch vom besonderen Behördenpostfach (beBPo) an das besondere Anwaltspostfach (beA) des im Verwaltungsverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalts und erhielt eine elektronische Eingangsbestätigung. Eine Zustellung per Postzustellungsurkunde erfolgte erst am nächsten Tag. Der bevollmächtigte Rechtsanwalt beantragte die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung (Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO) und gab eine Baubeginnanzeige ab. Das elektronisch übermittelte Dokument habe sich nicht öffnen lassen, die Ablehnung sei daher erst nach Eintritt der Genehmigungsfiktion zugegangen.

Die Antragsgegnerin lehnte die Ausstellung der Fiktionsbescheinigung ab und verfügte aufgrund der Baubeginnanzeige wegen eines unmittelbar bevorstehenden bauordnungsrechtlichen Verstoßes gegen Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO eine für sofort vollziehbar erklärte Baueinstellung nach Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO analog. Die Antragstellerin erhob Klage auf Feststellung des Fiktionseintritts und Ausstellung der Fiktionsbescheinigung. Mit weiterer Klage wendete sich die Antragstellerin gegen die Baueinstellungsverfügung und beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Das Verwaltungsgericht Regensburg lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass eine evidente Genehmigungsfähigkeit bei der Ermessensausübung im Rahmen einer Baueinstellung keine Rolle spiele und dies auch für den geltend gemachten evidenten Anspruch auf Erteilung der Fiktionseintrittsbescheinigung gelten müsse.

Der BayVGH gab der Beschwerde statt und stellte die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baueinstellungsverfügung wieder her.

II. Gründe

1. Für bestimmte Vorhaben (Art. 68 Abs. 2 BayBO) gilt eine ab dem 01.05.2021 beantragte Baugenehmigung mit Ablauf der entsprechenden Frist kraft Gesetzes als erteilt (Genehmigungsfiktion). Die Baugenehmigungsbehörde kann den Eintritt der Fiktionswirkung (nur) dadurch verhindern, dass sie vor Ablauf der Frist dem antragstellenden Bauherrn eine Entscheidung – sei es eine klassische Baugenehmigung, sei es einen Ablehnungsbescheid – gem. Art. 41, Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG wirksam bekannt gibt.

Der BayVGH stellt klar, dass eine fingierte Baugenehmigung einer ausdrücklich erteilten Baugenehmigung in jeder Hinsicht gleichsteht und damit auch die Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten unmittelbar Anwendung finden. Wird über den Bauantrag nicht innerhalb der Frist entschieden, tritt die Fiktionswirkung mit Ablauf der Frist ein und die Baugenehmigung gilt kraft Gesetzes als erteilt.

2. Der BayVGH stellt fest, dass die Antragstellerin aufgrund Fristablaufs Inhaberin einer fingierten Baugenehmigung geworden ist (Rn. 35 – 41). Zwar hat die Antragsgegnerin am letzten Tag der Frist einen Ablehnungsbescheid elektronisch an den Bevollmächtigten der Antragstellerin geschickt, diesen jedoch nicht förmlich zugestellt. Nach Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG galt die Ablehnung damit unabhängig vom tatsächlichen Zeitpunkt erst am dritten Tag nach der Absendung und damit nach Ablauf der Fiktionsfrist als bekanntgegeben und konnte den Eintritt der Fiktion nicht verhindern.

Die in Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG vorgesehene Drei-Tages-Frist ist strikt. Auch ein eventuell früherer Zugang ist nach dem Wortlaut des Gesetzes (Art. 41 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG) unerheblich. Die förmliche Zustellung per Postzustellungsurkunde (PZU) erfolgte ebenfalls erst nach Fristablauf. Damit kam es auf folgende, nicht (mehr) entscheidungserhebliche, für die Praxis hingegen ggf. relevante Fragen nicht mehr an:

  • Ist für die gewählte elektronische Übermittlung des Bescheids im pdf-Datei-Format unter Nutzung des „Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs“ (EGVP) in Form der Übermittlung des Bescheids von einem besonderen elektronischen Behördenpostfach auf ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach nach der Verkehrsanschauung eine ausreichende (konkludente) Zugangseröffnung i.S. von Art. 3a BayVwVfG, also eine Bereitschaft des Empfängers zur (auch außergerichtlichen) Kommunikation mit der Behörde anzunehmen?
  • Umfasst die Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts auch die Entscheidung über die Zugangseröffnung im Sinne von Art. 3a BayVwVfG?
  • Erfolgt eine elektronische Übermittlung mit einem nach Art. 41 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG erforderlichen Bekanntgabewillen, wenn im Übermittlungstext von einer Übersendung „vorab“ die Rede ist und im Übrigen auf das noch im Postweg zuzugehende Original verwiesen wird?

3. Weiterhin stellt der BayVGH fest, dass die tatbestandlichen Eingriffsvoraussetzungen des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO vorliegen (Rn. 44, 45). Zwar verfüge die Antragstellerin über eine fingierte Baugenehmigung, die das Vorhaben legalisiere, jedoch verbliebe bei einem Baubeginn ohne Ausstellung der Fiktionseintrittsbescheinigung nach Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG ein formeller Verstoß gegen Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO.

Ein solcher Verstoß kann aufgrund des ausdrücklichen Wortlauts des Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO die Einstellung der Bauarbeiten nach sich ziehen. Dies gilt selbst dann, wenn die Behörde rechtswidrig die Ausstellung der Bescheinigung unterlässt. Eine teleologische Reduktion des Tatbestands des Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BayBO kommt nach Ansicht des 15. Senats aufgrund der eindeutig formulierten Rechtslage nicht in Betracht.

4. Ist jedoch die Genehmigungsfiktion wegen Fristablaufs eingetreten, die Fiktionseintrittsbescheinigung aber noch nicht ausgestellt bzw. dem Bauherrn noch nicht zugegangen, ist im Rahmen des gem. Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 60 Abs. 6 Nr. 1 BayBO, Art. 40 BayVwVfG auszuübenden Eingriffsermessens ein bestehender Anspruch des Bauherrn auf Ausstellung der Bescheinigung zu berücksichtigen (Rn. 46).

Es bestünde mit Blick auf die Grundentscheidung des Gesetzgebers für die Implementierung einer von der materiellen Genehmigungsfähigkeit gerade unabhängigen und bei Ablauf einer Fiktionsfrist automatisch ausgelösten Baugenehmigungsfiktion mit gesetzlicher bestehender Pflicht der Bauaufsichtsbehörde zur unverlangten und unverzüglichen Ausstellung einer Fiktionseintrittsbescheinigung (Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG i.V. mit Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO) und unter Berücksichtigung des mit der Einführung der Genehmigungsfiktion gesetzlich verfolgten Beschleunigungszwecks ein normativer Wertungswiderspruch, wenn der Behörde uneingeschränkt eine bauordnungsrechtliche Eingriffsbefugnis gegenüber dem Bauherrn gemäß Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 (Alt. 2) BayBO verbliebe, obwohl sie es selber in der Hand hätte, den rechtswidrigen Zustand durch gesetzesgemäßes Verhalten – nämlich durch das unverzügliche Ausstellen der Fiktionseintrittsbescheinigung – zu beseitigen.

In diesem Fall liegen aufgrund der gesetzlichen Grundentscheidungen für einen von der materiellen Genehmigungsfähigkeit unabhängigen Fiktionseintritt und für einen ebenso von der materiellen Rechtslage unabhängigen Anspruch auf unverzügliche Ausstellung des Fiktionseintrittszeugnisses besondere Umstände vor, die ein behördliches Eingreifen gestützt auf die sonst geltenden Grundsätze des intendierten Ermessens gem. Art. 40 BayVwVfG nicht zu rechtfertigen vermögen. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) könne das bauordnungsrechtliche Eingreifen einer Behörde nicht als ermessensgerecht anzusehen sein, wenn sie etwas verlange, was sie sofort wieder revidieren müsste, weil sie zur Ausstellung der Fiktionseintrittsbescheinigung verpflichtet ist und damit den tatbestandlichen Eingriffsvoraussetzungen des Art. 75 Abs. 1 BayBO den Boden entziehen muss.

5. Hält die Behörde das beantragte Vorhaben materiell nicht für genehmigungsfähig, liegt es an ihr, eine fingierte Baugenehmigung durch Rücknahme nach Art. 48 BayVwVfG wieder aus der Welt zu schaffen. In diesem Fall hält es der BayVGH für denkbar, dass die Behörde sich gegenüber der Forderung nach Ausstellung der Fiktionseintrittsbescheinigung auf den Grundsatz „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“ (Arglistig handelt, wer fordert, was sofort zurückgewährt werden muss) als Gegeneinrede berufen kann.

Die bloße Ankündigung der Behörde, eine fingierte Baugenehmigung für den Fall zurücknehmen zu wollen, dass sie zur Ausstellung eine Fiktionseintrittsbescheinigung verurteilt werden sollte, genügt jedoch nicht. Vielmehr muss die Behörde zumindest aktenkundig dokumentiert konkrete Schritte eingeleitet haben, die alsbald in eine Rücknahme der fingierten Baugenehmigung gem. Art. 48 BayVwVfG unter Anordnung des Sofortvollzugs (§ 80 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO) münden sollen. Hierfür hat der Gesetzgeber in Bayern, der anders als in anderen Bundesländern die Rechtmäßigkeit der Bauausführung nicht an den Eintritt der Fiktionswirkung, sondern erst an die Zustellung der Fiktionseintrittsbescheinigung knüpft (Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO), offenbar der Behörde ein zeitliches Handlungsfenster für kurzfristige Korrekturmaßnahmen im Fall einer eingetretenen Genehmigungsfiktion für ein aus ihrer Sicht nicht genehmigungsfähiges Vorhaben eingeräumt.

Solange die Behörde von dem ihr eingeräumten Instrument einer sofort vollziehbaren Rücknahme jedoch keinen Gebrauch macht, ist es nach Auffassung des BayVGH nach Zielrichtung und Gesetzessystematik konsequent, dem Bauherrn den Anspruch auf die Fiktionseintrittsbescheinigung zu belassen. In diesem Fall bleibt ein auf Art. 75 Abs. 1 BayBO gestütztes bauordnungsrechtliches Eingreifen zur Verhinderung der Bauausführung bzw. dessen Beginns ermessensfehlerhaft; es besteht eine Ermessensreduzierung auf null zugunsten des Bauherrn.

 

Landesanwalt Dr. Heiko Sander ist bei der Landesanwaltschaft Bayern schwerpunktmäßig u.a. zuständig für Baurecht und Tierschutzrecht.

 

 

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