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Die Privilegierung von Kinderlärm nach § 22 Abs. 1a Bundesimmissionsschutzgesetz

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Im Juli 2011 hat der Bundesgesetzgeber mit § 22 Abs. 1a BImSchG eine praxisrelevante Privilegierung von anlagenbezogenem Kinderlärm eingeführt. Demnach sind Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen wie beispielsweise Ballspielplätzen durch Kinder hervorgerufen werden, im Regelfall keine schädlichen Umwelteinwirkungen (Satz 1). Bei der Beurteilung derartiger Geräuscheinwirkungen dürfen Immissionsgrenzen und Richtwerte nicht herangezogen werden (Satz 2). Der Regelung kommt auch im öffentlichen Baurecht weitreichende Bedeutung zu. Der Beitrag erläutert den sachlichen sowie personellen Anwendungsbereich der Norm und nimmt eine knappe Abgrenzung zu anderen Regelungswerken vor. Nach einer Darstellung über den Umfang der Privilegierung beziehungsweise der erfassten Nutzungen, wird ein Überblick über die Rechtsfolgen der Regelung gegeben.

1. Einführung

Im Rahmen baurechtlicher Nachbarklagen sind von den Verwaltungsgerichten regelmäßig diejenigen Rechte zu prüfen, die sowohl drittschützender Natur als auch Teil des bauaufsichtlichen Genehmigungsumfangs sind. Nur eine Verletzung der klagenden Nachbarn in derartigen Rechten führt schlussendlich zur Begründetheit der Klage[1]. Angesichts fortlaufender Nachverdichtungen, insbesondere im urbanen Raum, stellt sich hierbei regelmäßig die Frage nach einer etwaigen Rücksichtslosigkeit des genehmigten Bauvorhabens. Nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a) BayBO sowie Art. 60 Satz 1 Nr. 1 BayBO prüft die Bauaufsichtsbehörde auch die Übereinstimmung des Bauvorhabens mit den Vorschriften über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit.

Vorhaben, welche sich nach den §§ 2 bis 14 BauNVO als bauplanungsrechtlich allgemein zulässig erweisen, können im Einzelfall unzulässig sein, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, welche nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind (§ 15 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BauNVO). Dem auch in § 15 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BauNVO verankerten Gebot der Rücksichtnahme kommt soweit drittschützende Wirkung zu, wie in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist.

Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbar die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, desto weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen[2].

Zur Bestimmung dessen, was im Rahmen der Prüfung des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO Nachbarn an Einwirkungen zugemutet werden kann, kann im Regelfall auf die Begriffsbestimmungen und Maßstäbe des Bundesimmissionsschutzgesetzes zurückgegriffen werden. Hier wird die Grenze der Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen für Nachbarn und damit das Maß der gebotenen Rücksichtnahme mit Wirkung auch für das Baurecht grundsätzlich allgemein festgelegt[3].

Im Hinblick auf von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Anlagen ausgehende Lärmimmissionen hat der Bundesgesetzgeber durch das Zehnte Gesetz zur Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes vom 20. Juli 2011[4] mit dem Erlass des § 22 Abs. 1a BImSchG eine praxisrelevante Privilegierung eingeführt. Demnach sind Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen wie beispielsweise Ballspielplätzen durch Kinder hervorgerufen werden, im Regelfall keine schädlichen Umwelteinwirkungen (Satz 1). Bei der Beurteilung derartiger Geräuscheinwirkungen dürfen Immissionsgrenzen und Richtwerte nicht herangezogen werden (Satz 2).

Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, soll mit dieser Vorschrift zum Ausdruck gebracht werden, dass Kinderlärm unter einem besonderen Toleranzgebot der Gesellschaft steht und dass Geräusche spielender Kinder als Ausdruck der kindlichen Entwicklung und Entfaltung grundsätzlich zumutbar sind. Hiergegen gerichtete Abwehransprüche sollen auf seltene Einzelfälle beschränkt bleiben[5]. Die mit der bestimmungsgemäßen Nutzung typischerweise verbundenen Geräusche sind, soweit sie eine Folge der natürlichen Lebensäußerungen von Kindern darstellen, als ortsüblich und sozialadäquat zu werten[6].

Eine ähnliche Vorschrift enthält auch das BayKJG, welches in Art. 2 BayKJG in Bezug auf Kindertageseinrichtungen bestimmt, dass die natürlichen Lebensäußerungen von Kindern, die Ausdruck natürlichen Spielens oder anderer kindlicher Verhaltensweisen sind, als sozialadäquat hinzunehmen sind. Nach Ansicht des Bayerischen Landesgesetzgebers soll eine Beurteilung von Kinderlärm nach den Vorschriften des Bundesimmissionsschutzgesetzes in Bayern nicht mehr stattfinden[7].

2. Anwendungsbereich der Norm 1. Sachlicher Anwendungsbereich

Nach dem Wortlaut des § 22 Abs. 1a BImSchG sind von der Privilegierung Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen wie beispielsweise Ballspielplätzen erfasst. Während die Begriffe der Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätze (zu den Ausnahmen vgl. Ziffer II.2. sowie II.4.) selbsterklärend sind, bedarf der Begriff der „ähnlichen Einrichtung“ der näheren Betrachtung.

Die Rechtsprechung geht hierbei zutreffend davon aus, dass unter den Begriff auch Pausenhöfe sowie Hort- und andere Betreuungseinrichtungen fallen, soweit das Alter der nutzenden Kinder auf 14 Jahre oder jünger beschränkt ist (vgl. Ziffer II.2.). Hierzu stellt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zutreffend fest[8]: „Ein Pausenhof ist eine ähnliche Einrichtung wie ein Kinderspielplatz, denn er dient, wie dieser dem Ausleben der Spielbedürfnisse und des Bewegungsdrangs von Kindern. (…) Nichts Anderes gilt für die Benutzung der Freiflächen durch die Hortkinder und die offene Ganztagsschule. Für das Schulalter gilt für die Kindertagesbetreuung die objektiv-rechtliche Verpflichtung zur Vorhaltung eines bedarfsgerechten Betreuungsangebots im Sinne einer Tagesbetreuung, die zunehmend im Rahmen eines additiven Ganztagsschulkonzepts fungiert. Die Definition der Tageseinrichtung im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB III umfasst unter anderem auch den Hort“.

Auch Allwetterplätze, zum Beispiel für das Spielen von Fußball oder Basketball auf kleinen Flächen, sind von der Privilegierung des § 22 Abs. 1a BImSchG erfasst. Es kann hierbei dahinstehen, ob solche Anlagen unter den Begriff der „ähnlichen Einrichtung“ oder des „Ballspielplatzes“ fallen, da die Rechtsfolgen jeweils dieselben sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits vor Einführung des § 22 Abs. 1a BImSchG festgestellt, dass die Immissionsrichtwerte der Sportanlagenlärmschutzverordnung (18. BImSchV) nicht unmittelbar auf Ballspielplätze und ähnliche Anlagen für Kinder anzuwenden seien[9]. Auch das Verwaltungsgericht Augsburg und ihm folgend der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sehen Allwetterplätze, welche mit Toren und Basketballkörben ausgestattet sind und bestimmungsgemäß von Kindern bis 14 Jahren genutzt werden, als von der Privilegierung des § 22 Abs. 1a BImSchG erfasst[10].

Von diesen von § 22 Abs. 1a BImSchG erfassten Vorhaben abzugrenzen sind allerdings Spiel- und Bolzplätze sowie Skateranlagen und Streetballfelder für Jugendliche, die großräumiger angelegt sind und ein anderes Lärmprofil haben als Kinderspielplätze. Diese Anlagen werden von der Privilegierung des § 22 Abs. 1a BImSchG nicht erfasst[11].

3. Personeller Anwendungsbereich

Nach der amtlichen Begründung des Gesetzes ist die Privilegierung des § 22 Abs. 1a BImSchG beschränkt auf die Geräuscheinwirkungen durch Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren. Hiermit soll an die Definition des § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII angeknüpft werden[12]. Keine Anwendung soll die Privilegierung für die sportliche Betätigung Jugendlicher und junger Erwachsener finden (zur Kritik im Hinblick auf den Schulsport vgl. Ziffer II.4.). Hierfür haben Gesetz- und Verordnungsgeber die 18. BImSchV geschaffen. Die 18. BImSchV soll nach der Gesetzesbegründung auch nach Erlass des § 22 Abs. 1a BImSchG einschlägig sein für Sportanlagen im Sinne der Verordnung, welche dem Vereinssport, Schulsport oder vergleichbar organisiertem Freizeitsport dienen[13].

Die Bauaufsichtsbehörde ist daher gut beraten, in der streitgegenständlichen Genehmigung die Benutzung der jeweiligen Anlage auf den besagten Kreis der Kinder von 14 oder weniger Jahren zu begrenzen. Da es – im Rahmen des objektiv Möglichen – Sache des jeweiligen Bauherrn ist, durch seinen Genehmigungsantrag den Inhalt des Bauvorhabens festzulegen[14], sollte die altersmäßige Beschränkung in den Bauvorlagen explizit zum Ausdruck kommen. In der Praxis bieten sich entsprechende Erläuterungen in der vom Bauherrn erstellten Betriebsbeschreibung an (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1, § 3 Nr. 3, § 9 Satz 1 Bau-VorlV), welche über eine Nebenbestimmung ausdrücklich Bestandteil der Baugenehmigung werden sollte.

Zutreffend weist die Rechtsprechung nämlich darauf hin, dass für einen Allwetterplatz, der im Rahmen einer Kindertagesstätte während der Öffnungszeiten genutzt wird, die Privilegierung des § 22 Abs. 1a BImSchG Anwendung findet. Für denselben Allwetterplatz seien jedoch die Anforderungen der 18. BImSchV maßgeblich, wenn nach Ende der Öffnungszeiten der Allwetterplatz nach der Genehmigung noch der Öffentlichkeit ohne Altersbeschränkung zugänglich gemacht werde[15]. Anders liegt der Fall, wenn sich Dritte missbräuchlich über eine in der Genehmigung vorhandenen Beschränkung des Personenbeziehungsweise Alterskreis hinwegsetzen (vgl. Ziffer III.2.).

Zutreffend ist demnach auch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt, nach welcher der Anwendbarkeit des § 22 Abs. 1a BImSchG die gleichzeitig eröffnete Nutzung eines Spielgeländes beziehungsweise Spielgeräts für „Jung und Alt“ – das heißt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene – entgegensteht[16].

Die Rechtsprechung stellt zudem darauf ab, ob die zur Aufstellung genehmigten Spielgeräte der in der Genehmigung festgelegten Altersklasse entsprechen[17]. Relevant können in diesem Zusammenhang beispielsweise die Art der Spielgeräte, die Höhe von Spiel- beziehungsweise Kletterelementen über dem Boden und die Berücksichtigung der Wünsche von Kindern der entsprechenden Altersklasse sein[18].

 

Den vollständigen Bericht lesen Sie in den Bayerischen Verwaltungsblättern, 4/2023, S. 114.

[1] BayVGH, B.v. 24.03.2009 – 14 CS 08.3017 (rechtskräftig).

[2] BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1/04 (rechtskräftig); BayVGH, B.v. 12.09.2013 – 2 CS 13.1351 (rechtskräftig).

[3] BayVGH, U.v. 15.11.2011 – 14 AS 11.2305 (rechtskräftig).

[4] BGBl. I S. 1474.

[5] BT-Drs. 17/4836 S. 4.

[6] NdsOVG, B.v. 29.06.2006 – 9 LA 113/04 (rechtskräftig); VGH BW, B.v. 03.03.2008 – 8 S 2165/07 (rechtskräftig).

[7] LT-Drs. 16/8124 S. 6.

[8] BayVGH, B.v. 30.03.2021 – 1 CS 20.2637 (rechtskräftig).

[9] BVerwG, B.v. 11.02.2003 – 7 B 88/02 (rechtskräftig).

[10] VG Augsburg, U.v. 11.07.2012 – Au 4 K 11.1273 (unbekannt); BayVGH, B.v. 22.08.2013 – 15 ZB 12.1984 (rechtskräftig); so auch Hesselbarth, ZUR 2018, 451/454.

[11] VGH BW, U.v. 23.05.2014 – 10 S 249/14 (rechtskräftig).

[12] BT-Drs. 17/4836 S. 6; OVG RhPf, B.v. 08.03.2018 – 8 A 11829/17 (rechtskräftig); OVG NW, U.v. 22.02.2018 – 10 A 2559/16 (rechtskräftig); Jarass<, BImSchG, 13. Aufl. 2020, § 22 Rn. 52.

[13] BT-Drs. 17/4836 S. 6; Landmann/Rohmer, UmwR III, 84. EL 2017, § 22 BImSchG, Rn. 67.

[14] BVerwG, U.v. 20.08.1992 – 4 C 57.89 (rechtskräftig); BVerwG, B.v. 21.08.1991 – 4 B 20.91 (rechtskräftig).

[15] VG Augsburg, U.v. 11.07.2012 – Au 4 K 11.1273 (unbekannt); BayVGH, B.v. 22.08.2013 – 15 ZB 12.1984 (rechtskräftig).

[16] VG Frankfurt a. M., U.v. 27.05.2019 – 7 K 4666/15 (unbekannt).

[17] HessVGH, U.v. 30.11.1999 – 2 UE 263/97 (rechtskräftig); VGH BW, U.v. 23.05.2014 – 10 S 249/14 (rechtskräftig).

[18] Siehe zu alledem VG Ansbach, B.v. 02.06.2022 – AN 9 S 22.582 – Beckonline Rn. 54 (rechtskräftig)