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Zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung bei Abweichung vom Bauprogramm

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In Bayern ist das Erschließungsbeitragsrecht seit etlichen Jahren Landesrecht. Gleichwohl lohnt ein Blick auf die Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts, wenn es um allgemeine – namentlich verfassungsrechtliche – Grundsätze geht, deren Auslegung und Anwendung auch Erkenntnisse für die bayerische Rechtslage verspricht. So liegt es bei dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, das vom Bundesverfassungsgericht erstmals im Jahr 2013 anhand eines bayerischen Falls entwickelt worden ist (FStBay Randnummer 137/2013). Zuletzt hat dieses Ende 2021 – zur Rechtslage in Rheinland-Pfalz – entschieden, dass Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage nicht zeitlich unbegrenzt erhoben werden dürfen (GKBay Randnummer 60/2022).

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte sich in einer Urteilsserie vom 15.11.2022 (9 C 1.21 bis 9 C 23.21) nunmehr mit der Frage zu befassen, wie dieser Zeitpunkt bei Abweichungen vom gemeindlichen Bauprogramm zu bestimmen ist. Dem unten vermerkten Urteil vom 15.11.2022 (Leitverfahren) lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin wandte sich gegen die Heranziehung zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag für die Herstellung einer Erschließungsanlage im Gemeindegebiet der beklagten Stadt Bonn. Die Planung der Straße beruhte auf einem im Jahr 1973 in Kraft getretenen Bebauungsplan; die näheren Einzelheiten wurden in einem Gestaltungskonzept der Beklagten aus dem Jahr 1978 konkretisiert, das unter anderem im Bereich eines Wendehammers eine durchgehend gepflasterte Fläche vorsah. Die Bauarbeiten für den Straßenbau begannen 1978 und wurden im August 1986 abgeschlossen. Im Dezember 1987 wurde ein provisorisch vorbereitetes Baumbeet in der Mitte des Wendehammers mit einem Ginkgo bepflanzt, den die Beklagte 1989 bezahlte. Nach langer Untätigkeit hielt die Beklagte im Juni 2017 in einem internen Vermerk fest, dass die endgültige Beitragspflicht für die Anlage noch nicht entstanden sei, weil die im Wendehammer angelegte Baumscheibe im beschlossenen Ausbauprogramm nicht enthalten sei.

Zugleich setzte sie mit Bescheid vom 30.6.2017 Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag fest. Mit Anpassungsbeschluss ihres Bauausschusses vom Januar 2018 beschloss die Beklagte, der geänderten Straßenplanung zuzustimmen.

Die gegen den Vorausleistungsbescheid gerichtete Klage hatte vor dem Verwaltungsgericht (VG) und dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Erfolg. Die beiden Gerichte entschieden, dass eine Erhebung von Erschließungsbeiträgen mehr als dreißig Jahre nach Eintritt der Vorteilslage unzulässig sei; dieser Zeitpunkt sei hier mit dem Abschluss der maßgeblichen Bauarbeiten Ende 1987 anzusetzen.

Hiergegen legte die Beklagte Revision zum BVerwG ein. Während des Revisionsverfahrens trat in Nordrhein-Westfalen eine Neuregelung (§ 3 BauGB-AG NRW) in Kraft, die erstmals zeitliche Obergrenzen für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen einführte und hierfür je nach Fallgestaltung eine Ausschlussfrist von zehn bzw. zwanzig Jahren nach Eintritt der Vorteilslage vorsah.

Das BVerwG wies die Revision als unbegründet zurück, wobei es die neue Rechtslage zugrunde zu legen hatte. Es begründete seine Entscheidung wie folgt:

  1. Die zeitliche Begrenzung der Abgabenerhebung ist verfassungsrechtlich geboten

Zunächst befasst sich das Gericht mit dem Inhalt der neuen Vorschrift im Lichte der bisherigen Rechtsprechung:

„Mit der Neuregelung des § 3 BauGB-AG NRW hat der für die Festsetzung der Ausschlussfrist zuständige Landesgesetzgeber in Nordrhein-Westfalen jedenfalls für das Erschließungsbeitragsrecht die nach dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verfassungsrechtlich gebotene zeitliche Begrenzung für die Erhebung vorteilsausgleichender kommunaler Abgaben geschaffen (vgl. dazu grundlegend BVerfG, Beschluss vom 5.3.2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143). Einschlägig ist hier § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW, der in Anknüpfung an den Eintritt der Vorteilslage für ,Altfälle‘, in denen bei Inkrafttreten der Regelung am 1.6.2022 Erschließungsbeitragsbescheide noch nicht bestandskräftig waren (Satz 1) oder die Vorteilslage bereits bestand (Satz 2), eine Frist von 20 Jahren nach Eintritt der Vorteilslage bestimmt, nach deren Ablauf die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ausgeschlossen ist. Die Voraussetzungen dieser Regelung liegen vor, weil nach den zugrunde zu legenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts die Vorteilslage Ende 1987 eingetreten ist und die zwanzigjährige Ausschlussfrist daher bei Bescheiderlass im Jahr 2017 abgelaufen war.

Das Oberverwaltungsgericht hat zur Bestimmung der Vorteilslage zunächst auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zurückgegriffen. Danach kommt es im Erschließungsbeitragsrecht für das Entstehen der für die zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung relevanten Vorteilslage maßgeblich auf die tatsächliche – bautechnische – Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an, nicht jedoch darauf, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht – etwa die Widmung der Straße oder die Wirksamkeit der Beitragssatzung – vorliegen. Beurteilungsmaßstab dafür ist die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage. Entscheidend ist, ob die Anlage sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung nur provisorisch her- oder schon endgültig technisch fertiggestellt ist, d.h. dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht (vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163, 58 Rn. 55 und vom 12.12.2019 – 9 B 53.18 – juris Rn. 7). Diesen Maßstab hat das Oberverwaltungsgericht auch im vorliegenden Fall zugrunde gelegt, aber eine Ausnahme vom Erfordernis der vollständigen Erfüllung des Ausbauprogramms unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit für geboten erachtet. Danach sei es unter dem Blickwinkel der Erkennbarkeit ausreichend, wenn die unmittelbar in der Erschließungsbeitragssatzung definierten Herstellungsmerkmale erfüllt seien, eine zweckentsprechende Anlagennutzung möglich sei, die Anlage aus Sicht eines objektiven Betrachters endgültig fertiggestellt erscheine und ein solcher nur durch das Studium des unveröffentlichten Bauprogramms von der mangelnden Umsetzung Kenntnis erlangen könnte.“

  1. Die Vorteilslage kann trotz Abweichung vom gemeindlichen Gestaltungsprogramm eintreten

Sodann umreißt das Gericht den einschlägigen Prüfungsrahmen für die Bestimmung der Vorteilslage:

„Der Begriff der Vorteilslage als Ausgangspunkt für die Berechnung der landesrechtlichen Ausschlussfrist nach § 3 Abs. 1 und 2 BauGB-AG NRW ist im Gesetz nicht definiert; die Auslegung und Anwendung dieser landesrechtlichen Regelung obliegt grundsätzlich dem Oberverwaltungsgericht. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob die Anforderungen, die sich aus dem Bundes(verfassungs)recht ergeben, beachtet worden sind. Maßstab ist hier insbesondere das Verfassungsgebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, dem die landesgesetzliche Regelung gerade Rechnung tragen soll.

Das im Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz des Vertrauensschutzes wurzelnde Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit soll gewährleisten, dass in Fällen, in denen die abzugeltende Vorteilslage in tatsächlicher Hinsicht eingetreten ist, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können, die Möglichkeit der Beitragserhebung gleichwohl zeitlich begrenzt ist. Maßgebend ist dabei der Begriff der Vorteilslage. Dessen nähere Bestimmung richtet sich nach der jeweils abzugeltenden Leistung, im Erschließungsbeitragsrecht also nach dem durch die Erschließung vermittelten Vorteil i.S.d. §§ 127 ff. BauGB; Anknüpfungspunkt ist dabei ein in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossener Vorgang (BVerfG, Beschluss vom 3.11.2021 – 1 BvL 1/19 – BVerfGE 159, 183 Rn. 68). Die Vorteilslage muss an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflicht außer Betracht lassen. Bei Beachtung dieser Vorgaben steht den Fachgerichten im Rahmen der grundgesetzlichen Bindungen ein Spielraum zu, der in verfassungsrechtlicher Hinsicht nur eingeschränkt überprüfbar ist (BVerfG, Beschluss vom 3.11.2021 – 1 BvL 1/19 – BVerfGE 159, 183 Rn. 69).“

[…]

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der Gemeindekasse Bayern 13/2023, Rn. 118.