Rechtsprechung Bayern

Außervollzugsetzung eines Bebauungsplans wegen eines Ermittlungsdefizits zum Verkehrslärm

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Vor dem Verwaltungsgericht wurde gegen den Bau von Wohnungen auf einer land- und forstwirtschaftlich genutzten Fläche geklagt. Kern des Anliegens war die Unzumutbarkeit von auftretendem Verkehrslärm durch Bebauung mit bis zu 20 m Höhe. Der bayerische VGH hatte hierüber zu entscheiden.

Dem unten vermerkten Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 1.2.2023 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Antragsteller wendet sich im Normenkontrollverfahren gegen einen Bebauungsplan der Antragsgegnerin. Ziel der Planung ist die Deckung des Bedarfs an Wohnbauflächen für Ein- und Zweifamilienhäuser im Gebiet der Antragsgegnerin. Das 14.909 m² große, zum planungsrechtlichen Außenbereich gezählte Plangebiet liegt als überwiegend unbebaute, teils land-, teils forstwirtschaftlich genutzte Fläche nördlich der E. Straße mit an diese südlich daran anschließender Wohnbebauung. Unmittelbar angrenzend an das Plangebiet befindet sich dort auch das mit einem Wohnhaus bebaute und im Eigentum des Antragstellers liegende Grundstück. Im Westen des Plangebiets befindet sich eine Straße mit im Anschluss landwirtschaftlichen Flächen sowie einer Ausflugsgaststätte im Nordwesten. Im Norden grenzen Waldflächen und im Osten einzeilige Wohnbebauung entlang einer Straße an das Plangebiet an. Die Antragsgegnerin beschloss den Bebauungsplan am 25.7.2022 als Satzung.

Der Antragsteller hat mit einem Normenkontrolleilantrag vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Materiell-rechtlich verletze der Bebauungsplan das Abwägungsgebot, da eine massive und unzumutbar hohe Bebauung mit bis zu 20 m ermöglicht werde. Daraus resultiere eine erdrückende und abriegelnde Wirkung. Durch die hohe Verdichtung komme es zu einem unerträglich hohen Verkehrsaufkommen. Das Baugebiet sei unzumutbaren Lärmeinwirkungen aus dem Straßenverkehr, Belästigungen durch einen Verkehrslandeplatz, Geruchsbelästigungen durch einen Schweinestall sowie Lärmbelästigungen durch die Ausflugsgaststätte sowie einen Weinhof ausgesetzt. Dadurch werde auch das Trennungsgebot verletzt. Schließlich sei die Planung nicht erforderlich, da lediglich eine Gefälligkeitsplanung für einen Investor vorliege.

Der Antrag, den Bebauungsplan durch Erlass einer einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag des Antragstellers außer Vollzug zu setzen, war erfolgreich. Dem Beschluss des VGH entnehmen wir:

1. Sachgemäße Ermittlung der Verkehrslärmauswirkungen der künftigen Bebauung des Plangebiets

„Erst wenn die Gemeinde klare Vorstellungen von den immissionsschutzrechtlichen Auswirkungen ihrer Planung hat, kann sie abschätzen, ob die Schwelle der Abwägungsrelevanz erreicht ist oder nicht bzw. mit welchem Gewicht eine zu prognostizierende Belastung in die Abwägung einzustellen ist. Verfügt sie insoweit nicht selbst über eine zuverlässige Datenbasis, so muss sie sich die erforderlichen Kenntnisse anderweitig verschaffen. Die Einholung eines Immissionsgutachtens bietet sich als ein für diesen Zweck geeignetes Mittel an (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.8.2003 – 4 BN 51.03 – juris Rn. 5; BayVGH, Urteil vom 27.4.2016 – 9 N 13.1408 – juris Rn. 23). Die planende Gemeinde muss aber nicht stets umfangreiche gutachterliche Ermittlungen anstellen (lassen), um die konkrete Größenordnung der planbedingten Lärmauswirkungen exakt zu bestimmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn schon eine grobe Abschätzung eindeutig erkennen lässt, dass wegen des ersichtlich geringen Ausmaßes zusätzlicher planbedingter Verkehrsbewegungen beachtliche nachteilige Lärmbeeinträchtigungen offensichtlich ausscheiden.

Allerdings muss eine ermittelte Prognose hinreichend aussagekräftig sein, um die konkrete Planungssituation abwägungsgerecht beurteilen zu können. Der Satzungsgeber muss sich als Grundlage seiner Abwägungsentscheidung in einer Weise mit den zu erwartenden Lärmbeeinträchtigungen vertraut machen, die es ihm ermöglicht, hieraus entstehende Konflikte umfassend in ihrer Tragweite zu erkennen. Nur wenn dies der Fall ist, kann er zu einer sachgerechten Problembewältigung im Rahmen der Abwägung überhaupt in der Lage sein (vgl. BayVGH, Urteil vom 27.4.2016 – 9 N 13.1408 – juris Rn. 24; Beschluss vom 3.3.2017 – 15 NE 16.2315 – juris Rn. 26 m.w.N.). Die Anforderungen des § 2 Abs. 3 BauGB erlauben nur dann, auf die Ermittlung konkret zu erwartender Immissionswerte zu verzichten, wenn schon nach der Zahl der täglich zu erwartenden Kraftfahrzeugbewegungen im Hinblick auf die konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls keine Belästigungen zu besorgen sind, die die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten. Allerdings wird auch die Einschätzung, ob die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten wird, regelmäßig nicht ohne sachverständige Grobabschätzung der zu erwartenden Immissionen möglich sein (vgl. VGH BW, Urteil vom 24.7.2015 – 8 S 538/ 12 – Rn. 40 m.w.N.).“

2. Notwendiger Inhalt einer schalltechnischen Untersuchung

„Gemessen hieran liegt ein Verstoß gegen § 2 Abs. 3 BauGB vor. Die Antragsgegnerin hat hier weder die Zahl der infolge der künftigen Bebauung vom Baugebiet zu erwartenden Kraftfahrzeugbewegungen noch die konkrete Zahl der maximal zu erwartenden Wohneinheiten ermittelt. Entsprechendes lässt sich auch nicht der schalltechnischen Untersuchung … entnehmen. Aussagen zu dem zu erwartenden Verkehrslärm infolge der Baugebietsausweisung und zu dem vom geplanten Wohngebiet ausgehenden Verkehrslärm finden sich dort – mit Ausnahme einer Würdigung der festgesetzten Parkplatzflächen – nicht. Die Ausführungen in der schalltechnischen Untersuchung …, wonach in der E. Straße und der Straße … ,kein relevanter Durchgangsverkehr‘ vorliege …, zielen ihrer Formulierung nach auf die vorhandene Verkehrsbelastung und nicht auf den – infolge der Baugebietsausweisung – zusätzlich zu erwartenden Verkehr.

Es finden sich insoweit keine Angaben zu dem zu erwartenden Verkehrsaufkommen oder der Zahl erwarteter Kraftfahrzeugbewegungen. Insofern liegt auch keine Grobabschätzung vor, auf Basis derer auf (weitere, umfangreiche) gutachterliche Ermittlungen hätte verzichtet werden können (vgl. OVG NW, Beschluss vom 21.7.2014 – 2 B 301/14.NE – juris Rn. 86 ff.). Dem abschließend über den Satzungsbeschluss entscheidenden Gremium der Antragsgegnerin war es auf dieser defizitären Ermittlungsbasis somit nicht möglich, alle unter Lärmgesichtspunkten relevanten Gesichtspunkte sachgerecht abzuwägen bzw. eindeutig abzuschichten, ob die zu erwartende Lärmbelastung für Nachbarn des Plangebiets oder Anlieger der E. Straße einen abwägungserheblichen Belang darstellt oder nicht.“

3. Verkehrslärmauswirkungen infolge neuer Baulandausweisung als regelmäßig im Allgemeinwohl liegende Belange

„Zwar haben weder die Träger öffentlicher Belange noch der Antragsteller im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung hierzu Einwendungen erhoben. Die Antragsgegnerin konnte auf entsprechende Ermittlungen aber gleichwohl nicht verzichten, weil es sich bei der Ermittlung von Verkehrslärmauswirkungen infolge neuer Baulandausweisung um regelmäßig zum Gegenstand der Bauleitplanung auch im Allgemeinwohl liegende Belange gem. § 1 Abs. 6 Nr. 1 und 9 BauGB handelt. Dies musste sich der Antragsgegnerin auch aufdrängen bzw. ihr als zwingender Belang bekannt sein, zumal es aufgrund der vorgesehenen Bebauung mit – entsprechend der vorgesehenen Baufenster mehreren möglichen – Mehrfamilienhäusern mit bis zu vier Vollgeschossen gerade nicht von vornherein ,auf der Hand liegt‘, dass die zusätzliche Lärmbelastung im abwägungsunerheblichen Bagatell- bzw. Irrelevanzbereich liegen werde (vgl. BayVGH, Urteil vom 24.11.2017 – 15 N 16.2158 – juris Rn. 26).“

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 1.2.2023 – 15 NE 23.56

 

Entnommen aus der Fundstelle Bayern 15/2023, Rn. 172.