Rechtsprechung Bayern

Popularklage eines Ratsmitglieds

Eine Computer-Tastatur. Auf der Enter-Taste steht "Gemeinderat" und ein Aktenordner ist abgebildet.
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Die unten vermerkte Entscheidung vom Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) vom 14.2.2023 betraf eine Popularklage gegen neu eingeführte Bestimmungen in der Geschäftsordnung des Stadtrats der Stadt W.

Die Regelungen sehen vor, dass Anträge mit anstößigem, rassistischem und/oder diskriminierendem Inhalt nicht zur Behandlung zugelassen werden (§ 36g), dass Anfragen mit solchem Inhalt vom Sitzungsleiter zurückgewiesen werden (§ 43 Abs. 6) und dass die/der Vorsitzende berechtigt ist, Stadtratsmitglieder, die nicht zur Sache sprechen oder beleidigende, anstößige, rassistische und/ oder diskriminierende Ausführungen machen oder sonst gegen die Sitzungsgepflogenheiten verstoßen, zu rügen, sie auf den Verstoß aufmerksam zu machen und ihnen bei Nichtbeachtung dieser Warnung das Wort zu entziehen (§ 50 Abs. 1). Der Antragsteller, der selbst Mitglied des Stadtrats ist, machte geltend, die in den beanstandeten Regelungen enthaltenen Begriffe „anstößig, rassistisch und/oder diskriminierend“ ließen sich nicht objektiv definieren und könnten daher angewendet werden, um unliebsame Meinungsäußerungen zu unterbinden. Die angegriffenen Bestimmungen stünden nicht in Einklang mit einer freiheitlich demokratischen Ordnung; sie verstießen insbesondere gegen Art. 11 Abs. 5 (Gleichheit der politischen Rechte), Art. 110 Abs. 1 und 2 (Meinungsfreiheit) sowie gegen Art. 118 Abs. 1 BV (allgemeiner Gleichheitssatz). Die Popularklage hatte aus den nachfolgenden Gründen keinen Erfolg:

Geschäftsordnungen von Gemeinderäten sind keine Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 98 Satz 4 BV

Der VerfGH verweist hierzu auf die Unterschiede von bloßen Innenrechtssätzen zu außenwirksamen Normen:

„Die Popularklage ist unzulässig, weil sie sich gegen einen in diesem Verfahren nicht statthaften Prüfungsgegenstand richtet. Davon unabhängig hat der Antragsteller nicht substanziiert dargelegt, inwiefern die angegriffenen Regelungen der Geschäftsordnung des Stadtrates … in Widerspruch zu einer Grundrechtsnorm der Bayerischen Verfassung stehen sollen.

Nach Art. 98 Satz 4 BV hat der Verfassungsgerichtshof Gesetze und Verordnungen für nichtig zu erklären, die ein Grundrecht verfassungswidrig einschränken. Die Verfassungswidrigkeit kann jedermann durch Beschwerde (Popularklage) geltend machen (Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Gesetze und Verordnungen i.S.d. Art. 98 Satz 4 BV sind alle Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts, d.h. abstrakt-generelle Vorschriften, die sich an Rechtssubjekte wenden und mit unmittelbarer Außenwirkung für den Bürger Rechte und Pflichten begründen, ändern oder aufheben (VerfGH vom 29.10.2012 VerfGHE 65, 247/251 …). Die angegriffenen Regelungen der Geschäftsordnung des Stadtrates … sind nach ihrer Form und ihrem Inhalt keine Rechtsvorschriften im vorgenannten Sinn. Sie können dementsprechend nicht mit der Popularklage angegriffen werden.

Die angefochtenen Bestimmungen stellen schon ihrer Form nach keine Rechtsvorschriften dar. Die Stadt W…hat – vom Antragsteller unwidersprochen – mitgeteilt, dass die Geschäftsordnung des Stadtrates weder in der Rechtsform einer Gemeindesatzung (Art. 23 ff. GO) noch einer Gemeindeverordnung (Art. 42 ff. LStVG) erlassen wurde; sie wurde auch nicht förmlich bekanntgemacht.

Die inhaltliche Prüfung führt ebenfalls zu einer Verneinung der Rechtsnormqualität der Geschäftsordnung. Diese enthält Regelungen über die Organe der Stadt W…und ihre Aufgaben (Abschnitt A der Geschäftsordnung) sowie über den Verlauf der Sitzungen im Stadtrat und in den Ausschüssen (Abschnitt B der Geschäftsordnung). Regelungsgegenstände sind die innere Organisation der Stadt und die Meinungs- und Willensbildung ihrer Organe. Die Geschäftsordnung, zu deren Erlass die Gemeinde gemäß Art. 45 Abs. 1 GO verpflichtet ist, betrifft damit nicht das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern vielmehr ausschließlich organinterne Rechtsbeziehungen (vgl. Jung/M.Wolff in BeckOK Kommunalrecht Bayern, Art. 45 GO Rn. 2m.w.N.). Auch die konkret angegriffenen Regelungen entfalten keine unmittelbare Außenwirkung. Sie betreffen die Behandlung von Anträgen und Anfragen ehrenamtlicher Stadtratsmitglieder im Stadtrat sowie die Möglichkeit, Stadtratsmitgliedern in Sitzungen des Stadtrates das Wort zu entziehen. Regelungsgegenstand sind somit organinterne Vorgänge. Da der Regelungsgehalt der angefochtenen Bestimmungen ausschließlich den gemeindlichen Innenbereich erfasst, ist auch keine mittelbare Außenwirkung anzunehmen.“

Die Normenkontrolle nach § 47 VwGO dient anderen Zwecken als die Popularklage

Zu dieser Unterscheidung führt das Gericht aus:

„Die rechtliche Einordnung der Geschäftsordnungen kommunaler Vertretungsorgane als bloße Innenrechtssätze entspricht der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG vom 15.9.1987 NVwZ 1988, 1119/1120; BayVGH vom 16.2.2006 VGH n. F. 59, 14/15). Dass Regelungen der Geschäftsordnungen kommunaler Vertretungsorgane – trotz ihres Charakters als Innenrecht – im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO auf ihre Gültigkeit überprüft werden können, führt nicht dazu, dass sie auch als statthafter Prüfungsgegenstand der Popularklage anzusehen wären. Die Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV und die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle verfolgen unterschiedliche Ziele. Während die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle insbesondere der Rechtsklarheit und ökonomischen Gestaltung des Prozessrechts durch Vermeidung zahlreicher Einzelprozesse dient, bezweckt die Popularklage den Schutz der Grundrechte der Bayerischen Verfassung. Dem entspricht es, als Prüfungsgegenstand der Popularklage grundsätzlich nur Rechtsnormen zuzulassen, die Außenwirkung für den Bürger entfalten.“

Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 14.2.2023 – Vf. 10-VII-22

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der Fundstelle Bayern 16/2023, Rn. 182.