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Bebauungsplan: Ermittlungspflicht der zusätzlichen Verkehrsbelastung

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Dem unten vermerkten Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 26.6.2023 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

2019 beschloss die Antragsgegnerin des Normenkontrollverfahrens, einen Bebauungsplan im beschleunigten Verfahren aufzustellen. Ziel der Planung ist die Deckung des Bedarfs an Wohnbauflächen für Ein- und Zweifamilienhäuser im Gebiet der Antragsgegnerin. Das zum Außenbereich gezählte Plangebiet liegt als überwiegend unbebaute, teils land-, teils forstwirtschaftlich genutzte Fläche nördlich der E.…Straße mit an diese südlich daran anschließender Wohnbebauung. Unmittelbar angrenzend an das Plangebiet befindet sich dort auch das mit einem Wohnhaus bebaute und im Eigentum des Antragstellers liegende Grundstück.

Im Bauleitplanverfahren hat der Antragsteller mit Schriftsätzen Einwendungen erhoben. Die Antragsgegnerin beschloss am 25.7.2022 über die fristgerecht eingegangenen Stellungnahmen und den Bebauungsplan als Satzung. Der Bebauungsplan wurde am 5.8.2022 ausgefertigt und am 16.8.2022 sowohl im Amtsblatt als auch durch Anschlag an die Amtstafel bekannt gemacht.

Zur Begründung seines Normenkontrollantrags führte der Antragsteller u.a. aus, dass der Bebauungsplan das Abwägungsgebot verletze, da eine massive und unzumutbar hohe Bebauung mit bis zu 20 m ermöglicht werde. Daraus resultiere eine erdrückende und abriegelnde Wirkung. Durch die hohe Verdichtung komme es zu einem unerträglich hohen Verkehrsaufkommen. Das Baugebiet sei unzumutbaren Lärmeinwirkungen ausgesetzt. Die Antragsgegnerin entgegnete, die zu erwartende Verkehrszunahme in der E. … Straße beschränke sich auf den Anliegerverkehr; dieser lasse kein unerträglich hohes Verkehrsaufkommen erwarten. Die schalltechnische Untersuchung komme zu dem Schluss, dass auch ohne Erhebung der Verkehrsdaten und expliziter Berechnung aus dem Straßenverkehr keine Überschreitungen der Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung zu erwarten seien. Anregungen zu sonstigen Immissionen (Geruchs-, Straßenverkehrs- oder Luftverkehrsimmissionen) hätten sich aus den Stellungnahmen der beteiligten Träger öffentlicher Belange nicht ergeben.

Mit Schriftsatz vom 2.6.2023 teilte die Antragsgegnerin mit, dass ein ergänzendes Verfahren eingeleitet werde. Nach einer Verkehrsuntersuchung zur Ermittlung der Verkehrslärmwerte nach RLS-19 mit Stand 25.5.2023 und einer schalltechnischen Untersuchung vom 25.5.2023 sei die Zunahme des Anliegerverkehrs durch die Planung voraussichtlich nicht mehr geringfügig. Aus den Pegelerhöhungen an den betroffenen Immissionsorten ergäbe sich jedoch keine Maßnahmerelevanz.

Der VGH erklärte den Bebauungsplan für unwirksam und führt zur Frage der Lärmbelastung Folgendes aus:

1. Umfang der Pflicht der Gemeinde zur Ermittlung des durch den Bebauungsplan zusätzlich zu erwartenden Verkehrslärms

„Lärmschutzbelange sind grundsätzlich dann in die Abwägung einzubeziehen, wenn die Lärmbelastung infolge des Bebauungsplans ansteigt…Auch eine planbedingte Zunahme des Verkehrslärms gehört daher grundsätzlich zu den abwägungsrelevanten Belangen bei der Aufstellung eines Bebauungsplans … Ist der Lärmzuwachs allerdings völlig geringfügig oder wirkt er sich nur unwesentlich (d.h. nicht über eine vernachlässigenswerte Bagatellgrenze hinaus) auf ein Grundstück aus, so muss er nicht in die Abwägung eingestellt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.6.2004 – 4 BN 19.04 – juris Rn. 6; …). Ob vermehrte Verkehrslärmbeeinträchtigungen mehr als geringfügig zu Buche schlagen, lässt sich nicht anhand fester Maßstäbe beurteilen. Insbesondere lässt sich die Schwelle der Abwägungsrelevanz bei Verkehrslärmerhöhungen nicht alleine durch einen Vergleich von Lärmmesswerten mit bestimmten Richtwerten o.Ä. bestimmen. Auch eine Lärmbelastung unterhalb der Grenze schädlicher Umwelteinwirkungen und unterhalb einschlägiger Orientierungs- bzw. Grenzwerte (vgl. z.B. Beiblatt 1 zu DIN 18005 – Teil 1; § 2 16. BImSchV; Nr. 6 TA Lärm) kann zum Abwägungsmaterial gehören …; dasselbe kann sogar bei einer Verkehrslärmzunahme der Fall sein, die für das menschliche Ohr kaum wahrnehmbar ist (vgl. BayVGH, Beschluss vom 26.3.2014 – 9 NE 13.2213 – juris Rn. 13; …; im Fall einer Verkehrslärmzunahme unterhalb des 3-dB(A)-Kriteriums des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der 16. BImSchV vgl. BVerwG, Urteil vom 18.7.2013 – 4 CN 3.12 – juris Rn. 27). Es bedarf stets einer einzelfallbezogenen, wertenden Betrachtung der konkreten Verhältnisse unter Berücksichtigung der Vorbelastung und Schutzwürdigkeit des jeweiligen Gebiets …

Soweit nicht von vornherein ,auf der Hand liegt‘, dass es zu keinen abwägungsrelevanten Lärmzuwachsen kommen kann, treffen die planende Gemeinde im Vorfeld der eigentlichen Abwägung gem. § 2 Abs. 3 BauGB entsprechende Ermittlungspflichten. Erst wenn die Kommune klare Vorstellungen von den immissionsschutzrechtlichen Auswirkungen ihrer Planung hat, kann sie abschätzen, ob die Schwelle der Abwägungsrelevanz erreicht ist bzw. mit welchem Gewicht eine zu prognostizierende Belastung in die Abwägung einzustellen ist. Verfügt sie insoweit nicht selbst über eine zuverlässige Datenbasis, so muss sie sich die erforderlichen Kenntnisse anderweitig verschaffen. Die Einholung eines Immissionsgutachtens bietet sich als ein für diesen Zweck geeignetes Mittel an … Die planende Gemeinde muss aber nicht stets umfangreiche gutachterliche Ermittlungen anstellen (lassen), um die konkrete Größenordnung der planbedingten Lärmauswirkungen exakt zu bestimmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn schon eine grobe Abschätzung eindeutig erkennen lässt, dass wegen des ersichtlich geringen Ausmaßes zusätzlicher planbedingter Verkehrsbewegungen beachtliche nachteilige Lärmbeeinträchtigungen offensichtlich ausscheiden. Allerdings muss eine ermittelte Prognose hinreichend aussagekräftig sein, um die konkrete Planungssituation abwägungsgerecht beurteilen zu können. Der Satzungsgeber muss sich als Grundlage seiner Abwägungsentscheidung in einer Weise mit den zu erwartenden Lärmbeeinträchtigungen vertraut machen, die es ihm ermöglicht, hieraus entstehende Konflikte umfassend in ihrer Tragweite zu erkennen. Nur wenn dies der Fall ist, kann er zu einer sachgerechten Problembewältigung im Rahmen der Abwägung überhaupt in der Lage sein…

Setzt ein Bebauungsplan eine Straßenverkehrsfläche neben einem Wohngrundstück fest, kann nach Maßgabe von § 2 Abs. 3 BauGB nur dann auf die Ermittlung konkret zu erwartender Immissionswerte verzichtet werden, wenn schon nach der Zahl der täglich zu erwartenden Kfz-Bewegungen im Hinblick auf die konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls keine Belästigungen zu besorgen sind, die die Geringfügigkeits-/Bagatellgrenze überschreiten. Allerdings wird auch die Einschätzung, ob die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten wird, regelmäßig – d.h., soweit es nicht z.B. um Fallgestaltungen geht, bei denen über einen kleinräumigen Bebauungsplan nur die Möglichkeit des Zuwachses einzelner Häuser in der Nachbarschaft ermöglicht wird … – nicht ohne sachverständige Grobabschätzung der zu erwartenden Immissionen möglich sein …

Gemessen hieran stellt es einen Verstoß gegen § 2 Abs. 3 BauGB dar, dass die Antragsgegnerin die planbedingte Zunahme der Verkehrslärmbelastung für die Antragsteller durch die künftige Nutzung der nördlich des Antragstellergrundstücks verlaufenden E. … Straße als Basis für die Abwägung und den Satzungsbeschluss nicht aufgeklärt hat (vgl. zu diesem Ergebnis die vorangegangene Entscheidung BayVGH, Beschluss vom 1.2.2023 – 15 NE 23.56 – juris Rn. 36). Angesichts der umfangreichen Bebauung mit mehreren Mehrfamilienhäusern im viergeschossigen Bau lag bei dem ausgewiesenen Baugebiet kein Sachverhalt vor, bei dem von vornherein ohne nähere Ermittlung und Bewertung ,auf der Hand‘ gelegen hätte, dass eine zusätzliche Lärmbelastung der Antragsteller im abwägungsunerheblichen Bagatell- bzw. Irrelevanzbereich liegen werde … Der Antragsgegnerin war es auf der defizitären Ermittlungsbasis daher nicht möglich, alle unter Lärmgesichtspunkten relevanten Gesichtspunkte sachgerecht abzuwägen bzw. eindeutig abzuschichten, mit welchem Gewicht die durch die Nutzung der Erschließungsstraße verkehrsbedingt zu erwartende Lärm(zusatz)belastung in die Abwägung einzustellen war …“

[…]

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der Fundstelle Bayern Heft 5/2024, Rn. 51.