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Infektionsschutzrecht: Vollzug des Masernschutzgesetzes

§ 20 Abs. 8 ff. IfSG. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 29 ff. BayVwZVG

Masernschutznachweis; Masernschutzimpfung; Medizinische Kontraindikation; Ärztliches Zeugnis; Schulpflicht; Schulpflichtiges Kind; Kindeswohl

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 05.12.2024, Az. 20 BV 24.1343

Orientierungssatz der Landesanwaltschaft Bayern

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Masernschutzgesetzes vom 10.02.2020, das mit Gesetz vom 16.09.2022 modifiziert wurde, bestehen auch bei seiner Anwendung auf schulpflichtige Kinder nicht.

Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern

Das vorliegende Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) vom 05.12.2024, Az. 20 BV 24.1343, bestätigt die Rechtmäßigkeit der von einem Gesundheitsamt ausgesprochenen Verpflichtung von Eltern eines schulpflichtigen Kindes, für dieses Kind einen Nachweis über einen ausreichenden Schutz vor Masern, namentlich eine Impfdokumentation, ein ärztliches Zeugnis über die Immunität gegen Masern oder auch ein ärztliches Zeugnis über eine medizinische Kontraindikation der Impfung gegen Masern vorzulegen.

1. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der hierfür mit dem Masernschutzgesetz vom 10.02.2020 geschaffenen Rechtsgrundlage im Infektionsschutzgesetz (IfSG) bestehen nach Darlegung des BayVGH nicht. Insoweit verweist der BayVGH zunächst auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 21.07.2022, Az. 1 BvR 469/20 u.a., BVerfGE 162, 378 = juris, dessen maßgebliche Erwägungen auf die Fallkonstellation übertragbar seien, dass schulpflichtige Kinder von der mit dem Masernschutzgesetz geschaffenen Auf- und Nachweispflicht der Immunität gegen Masern betroffen sind. Gleich in diesem Kontext weist der BayVGH darauf hin, dass im Rahmen der Vollstreckung einer Anordnung zur Beibringung eines solchen Nachweises Ermessen auszuüben und die vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigte Spannungslage zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht sowie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes einerseits und dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung (vor der Infektionskrankheit Masern) andererseits zu berücksichtigen und im Einzelfall unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu bewerten sei.

Der BayVGH stellt fest, dass schulpflichtigen Kindern nach § 20 Abs. 12 Satz 5 IfSG nicht untersagt werden kann, die Schule zu betreten. Damit reduziert sich aber seiner Ansicht nach die Eingriffsintensität der Auf- und Nachweispflicht für schulpflichtige Kinder und ihre Eltern nur scheinbar. Es sei zu bedenken, dass die Anordnung zur Beibringung eines Nachweises der Immunität gegen Masern gesetzlich als vollstreckbarer Verwaltungsakt ausgestaltet ist, der mit Zwangsmitteln vollzogen werden kann. Allein der durch die Verwaltungsvollstreckung ausgeübte psychische und finanzielle Druck könne geeignet sein, den Willen der Eltern zu beugen und sie dazu zu bewegen, ihrer Verpflichtung nachzukommen. Die Möglichkeit der Vollstreckung sei damit bei der Bewertung der Eingriffsqualität zu bewerten.

Im Urteil des BayVGH vom 05.12.2024 folgt eine detaillierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Masernschutzgesetzes, bei der wiederholt auf die diesbezügliche Entscheidung des BVerfG vom 21.07.2022, Az. 1 BvR 469/20 u.a., BVerfGE 162, 378 = juris zurückgegriffen wird. Der BayVGH hebt die Bedeutung des Kindeswohls als maßgebliche Richtschnur bei der Ausübung des Elternrechts bzw. der elterlichen Verantwortung hervor und stellt fest, dass die Vornahme der von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen (zu denen die Masernschutzimpfung gehört) dem Kindeswohl regelmäßig entspricht. Beiläufig weist der BayVGH darauf hin, dass ältere, der Schulpflicht unterliegende Kinder entwicklungsbedingt bereits in der Lage sein können, über Maßnahmen medizinischer Behandlung selbst zu entscheiden oder mitzuentscheiden.

Abermals spricht der BayVGH sodann – im Rahmen der Betrachtung der Angemessenheit im verfassungsrechtlichen Sinne – gewisse Ermahnungen hinsichtlich der Anwendung von Zwangsmitteln gegen die Eltern schulpflichtiger Kinder beim Vollzug des Masernschutzgesetzes aus. Die Anwendung von Verwaltungszwang dürfe hier nicht zu einer faktischen Impfpflicht führen. „Je nach Alter des Kindes“ wird allerdings eine erste Zwangsgeldandrohung regelmäßig für ermessensgerecht gehalten.

2. Der BayVGH präzisiert die gesetzlichen Anforderungen an den Nachweis einer medizinischen Kontraindikation der Masernschutzimpfung durch ärztliches Zeugnis gem. § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alternative 2 IfSG. Dieser Nachweis sei in der Regel unproblematisch, wenn ein ärztliches Zeugnis sich auf die bei den in Deutschland angebotenen Impfstoffe, welche als Masern-Mumps-Röteln- oder Masern-Mumps-Röteln/Varizellen-Kombinationsimpfstoffe angeboten werden, aufgeführten Kontraindikationen beziehe.

 

Oberlandesanwältin Sigrid Kaiser ist bei der Landesanwaltschaft Bayern schwerpunktmäßig zuständig für Seuchenrecht und Abfallrecht.

 

 

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