Rechtsprechung Bayern

Nachbarklage gegen Kindergarten

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Dem unten vermerkten Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 27.6.2024 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Kläger wenden sich gegen eine der Beklagten erteilte Baugenehmigung für den Umbau und die Nutzungsänderung eines Wohnhauses in einen Kindergarten auf dem Nachbargrundstück. In unmittelbarer Nähe des klägerischen Grundstücks befindet sich bereits ein weiterer Kindergarten, in der näheren Umgebung befindet sich eine Schule. Die Kläger meinten, durch den jetzt genehmigten Kindergarten würden insgesamt unzumutbare Immissionen auf ihr Grundstück einwirken. Erstinstanzlich obsiegten sie. In der Berufungsinstanz hob der VGH die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab. In seinem Beschluss führt er auszugsweise Folgendes aus:

  1. Kein Verstoß gegen Gebietserhaltungsanspruch

„Ein Verstoß gegen einen etwaigen Gebietserhaltungsanspruch ist nicht ersichtlich. Der Gebietserhaltungsanspruch des Nachbarn setzt voraus, dass das Grundstück in einem festgesetzten oder in einem faktischen Baugebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB) liegt, und ist im Ergebnis darauf gerichtet, Vorhaben zu verhindern, die nach Art der baulichen Nutzung weder regelmäßig noch ausnahmsweise in diesem Gebiet zulässig sind … Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Im Rahmen dieses nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses kann daher das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des (faktischen) Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindert werden … Mit dem Erstgericht ist davon auszugehen, dass es sich bei dem maßgeblichen Quartier um ein faktisches allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO) handelt, in dem Kindergärten als Anlagen für soziale Zwecke allgemein zulässig sind (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO). Diese Einschätzung des Erstgerichts wird von den Beteiligten auch nicht infrage gestellt. Ob aufgrund des bestehenden Kindergartens S. in der unmittelbaren Umgebung überhaupt weiterer Bedarf an Kinderbetreuungsmöglichkeiten besteht, ist, wovon das Erstgericht ebenfalls zutreffend ausgeht, entgegen der Ansicht der Kläger nicht entscheidend. Auf den nur der Versorgung des Gebiets dienenden Charakter der Anlage kommt es im Rahmen von § 4 Abs. 2 BauNVO nicht an. Diese Einschätzung des Erstgerichts wurde von den Klägern im Berufungsverfahren auch nicht weiter angegriffen.“

  1. Kein Verstoß gegen Rücksichtnahmegebot

„Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an … Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat…Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht … Eine unzumutbare Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks durch die (hinzukommende) Kindertagesstätte ist nicht zu erwarten. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die durch die bestimmungsgemäße Nutzung der Kindertagesstätte verursachten Geräuscheinwirkungen sowie den durch den An- und Abfahrtsverkehr verursachten Lärm.“

  1. Kindergartenlärm ist grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen

„Hinsichtlich der durch die Kinder verursachten Geräusche – insbesondere bei Nutzung des rückwärtigen Gartenbereichs des Vorhabengrundstücks als Außenspielfläche – folgt dies schon aus § 22 Abs. 1a BImSchG. Nach dieser Regelung sind Geräuscheinwirkungen, die unter anderem von Kindertageseinrichtungen durch Kinder hervorgerufen werden, im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung … Bei der Beurteilung der Geräuscheinwirkungen dürfen Immissionsgrenz- und -richtwerte nicht herangezogen werden. Ziel dieser Regelung ist es, das Lärmschutzrecht dahingehend weiter zu entwickeln, um den von Kindertageseinrichtungen ausgehenden ,Kinderlärm‘ zu privilegieren und um ein klares gesetzgeberisches Signal für eine kinderfreundliche Gesellschaft zu setzen (BTDrs. 17/4836; vgl. auch Art. 2 BayKJG, wonach die natürlichen Lebensäußerungen von Kindern, die Ausdruck natürlichen Spielens oder anderer kindlicher Verhaltensweisen sind, als sozialadäquat hinzunehmen sind).

Die Privilegierung betrifft grundsätzlich ,Geräuscheinwirkungen‘ durch Kinder sowie das Rufen und Sprechen von Betreuungspersonen und das Nutzen kindgerechter Spielgeräte (vgl. BVerwG, B.v. 5.6.2013 – 7 B 1.13 – juris Rn. 6). Der mit dem Betrieb eines Kindergartens einhergehende Lärm ist in Gebieten, in denen eine solche Einrichtung nach den Regelungen der BauNVO zur Art der baulichen Nutzung regelmäßig oder ausnahmsweise zulässig ist – so auch in (faktischen) reinen und allgemeinen Wohngebieten und in Mischgebieten gem. § 3 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 2, § 4 Abs. 2 Nr. 3, § 6 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO (ggf. i.V. mit § 34 Abs. 2 BauGB) bzw. in unbeplanten Gemengelagen mit tatsächlich vorhandener Wohnnutzung gem. § 34 Abs. 1 BauGB – grundsätzlich von den Nachbarn hinzunehmen …“

  1. Berücksichtigung von Größe und Öffnungszeiten des Kindergartens

„Besondere Umstände, die im hier zu entscheidenden Einzelfall zu einer anderen Betrachtung führen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere liegt kein Sonderfall vor (vgl. zu den sogenannten ,sensiblen Nutzungen‘ wie Krankenhäusern oder Pflegeheimen: BeckOK UmweltR/Enders, 70. Ed. 1.4.2024, § 22 BImSchG Rn. 24b). Das gilt auch unter Berücksichtigung der Gesundheitseinschränkungen der Kläger, da die Zumutbarkeitsgrenze wertend nach objektiven Gesichtspunkten zu betrachten ist. Die vorgesehene Kindertagesstätte erreicht mit nur maximal 25 Betreuungsplätzen – also als kleine Einrichtung – keinen für die vorgefundene Nachbarschaft unzumutbaren Umfang. Eine äußerste, auch für den Bundesgesetzgeber aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachtende Grenze für die Zumutbarkeit ist ein gesundheitsschädliches Lärmniveau … Von einer derart hohen Belastung kann bei einer Kindertageseinrichtung geringer Größe mit nur einer Gruppe mit maximal 25 Betreuungsplätzen nicht ausgegangen werden.

Die Kindertagesstätte wird ausschließlich an Werktagen betrieben und wohl erst um 7:00 Uhr geöffnet sowie wohl spätestens um 18:30 Uhr – das Erstgericht geht von den Beteiligten unwidersprochen in Bezug auf die Bring- und Holzeiten von Stoßzeiten von 7:30 bis 8:30 und von 16:00 bis 17:00 Uhr aus – wieder geschlossen, sodass die Tagzeiten mit erhöhter Empfindlichkeit (an Werktagen von 6:00 Uhr bis 7:00 Uhr und von 20:00 bis 22:00 Uhr) gar nicht betroffen sind. Bei einer Größe der bespielbaren Außenfläche – die bis auf ca. 5 m an die Grundstücksgrenze der Kläger heranreicht, aber von dieser durch einen abschirmenden blickdichten Staubgitterzaun von 1,80 m Höhe getrennt ist – von insgesamt nur ca. 100 m² ist überdies davon auszugehen, dass sich ein Gutteil der pädagogischen Spiel- und Freizeitgestaltung im Innenbereich abspielen wird. Die Kindertagesstätte verfügt insoweit über angemessene Innenspiel- und Nutzflächen.“

  1. Berücksichtigung von Vorbelastungen durch vorhandene Kitas

„Dieses Ergebnis gilt auch unter Berücksichtigung der bereits vorhandenen, nicht vollkommen unerheblichen Vorbelastungen durch die bereits existierende Kindertagesstätte S. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die durch die geplante Einrichtung hinzutretende zusätzliche Geräuschbelastung – vom Kraftfahrzeugverkehr abgesehen – in erster Linie bzw. ausschließlich durch den Aufenthalt der Kinder im Freien hervorgerufen wird. Allerdings sind die örtlichen Verhältnisse dergestalt, dass die durch die geplante Einrichtung hinzukommende Außenspielfläche im Verhältnis zu der östlich der Kindertagesstätte S. gelegenen Außenspielfläche flächenmäßig kaum ins Gewicht fällt und daher nicht nennenswert zu einer Erhöhung der bereits vorhandenen Geräuschbelastung führen wird (zumal, wie oben dargelegt, ausreichende Innenspielflächen vorhanden sind).

Der Senat berücksichtigt bei dieser Wertung auch die vorhandene Vorbelastung durch die nordwestlich der vorhandenen Kindertagesstätte S. bestehende Außenspielfläche, die jedoch vom klägerischen Grundstück mindestens 40 m entfernt liegt und vor diesem Hintergrund nicht derart ins Gewicht fällt, dass insgesamt mit einer unzumutbaren Beeinträchtigung durch Außenspielgeräusche zu rechnen wäre. Gleiches gilt unter Berücksichtigung der bestehenden Vorbelastung durch im Zusammenhang mit dem Betrieb der nordwestlich gelegenen M…schule entstehende Geräusche. Lärm von Schulkindern, die auf einem Pausenhof spielen und Lärm vom Schulgebäude einer Schule selbst sind regelmäßig als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 5.10.2023 – 1 KN 16/ 21 – juris). Dass dies im hier zu entscheidenden Einzelfall anders liegen könnte, ist angesichts der Tatsache, dass der Schulhof mindestens 60 m … vom klägerischen Grundstück entfernt liegt, nicht anzunehmen. Dieses Ergebnis gilt auch, wenn man die Gesamtheit aller bestehenden Vorbelastungen berücksichtigt, zumal die Kläger während des gerichtlichen Augenscheins selbst angegeben haben, die aus ihrer Sicht am stärksten beeinträchtigenden Lärmeinwirkungen würden durch den Hol- und Bringverkehr verursacht …

Insgesamt wird das klägerische Grundstück nicht durch Einrichtungen im Sinne von § 22 Abs. 1a Satz 1 BImSchG bzw. ähnlichen Einrichtungen derart ,eingemauert‘, dass die Zumutbarkeitsschwelle überschritten wäre, zumal sich direkt gegenüber des klägerischen Grundstückes und nach Nordwesten hin erstreckend ein weitläufiger Stadtpark ohne nennenswerte ,Negativeinrichtungen‘ befindet, auch wenn ein kleiner Teil davon gelegentlich zum Schulsport der M…schule oder seltenen Festivitäten oder sonstigen Aktivitäten benutzt wird.“

  1. Auch der durch Kindergärten oder vergleichbare Einrichtungen hervorgerufene Verkehrslärm ist grundsätzlich hinzunehmen

„Unzumutbare Auswirkungen auf das Nachbargrundstück durch den der verfahrensgegenständlichen Einrichtung zuzurechnenden Verkehr sind ebenfalls nicht zu erwarten. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Lärmbelästigung als auch im Hinblick auf den Park- und Parkplatzsuchverkehr. Die TA Lärm als normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift findet für die Abgrenzung zwischen zumutbarem und unzumutbarem Lärm gemäß Nr. 1 Satz 2 Buchst. h auf Kindergärten als Anlagen für soziale Zwecke keine Anwendung (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2020 – 15 CS 20.45 – juris Rn. 17). Offenbleiben kann, ob § 22 Abs. 1a BImSchG auch auf die durch die bestimmungsgemäße Nutzung entstehenden Verkehrsgeräusche anwendbar ist… Denn der mit dem Bringen und Holen der in der Einrichtung betreuten Kinder verbundene Verkehrslärm ist von den Nachbarn regelmäßig hinzunehmen …

Dies gilt sowohl in Baugebieten nach der BauNVO, in denen Kindertageseinrichtungen allgemein oder ausnahmsweise zulässig sind, als auch in Gemengelagen, in denen Wohnnutzung vorhanden ist. Dass die Umstände des Einzelfalls hier aufgrund einer besonderen Belastungswirkung zu einer anderen Bewertung führen könnten, ist nicht ersichtlich.

Gleiches gilt für den dem Vorhaben zuzurechnenden Park- oder Parksuchverkehr. Der durch ein Vorhaben verursachte und diesem zuzurechnende Fahrzeugverkehr kann nur in Ausnahmefällen zu einer Unzumutbarkeit für die betroffenen Nachbarn führen, insbesondere dann, wenn mangels ausreichender Parkmöglichkeiten (im Bereich der öffentlichen Verkehrsflächen oder auf dem Vorhabengrundstück) der hierdurch bewirkte Park- oder Parksuchverkehr den Nachbarn unzumutbar beeinträchtigt oder wenn die bestimmungsgemäße Nutzung des Nachbargrundstücks nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich ist, (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.20091) – 1 CS 09.287 – juris Rn. 39). Hierbei muss es aufgrund der örtlichen Verhältnisse zu chaotischen Verkehrsverhältnissen im unmittelbaren Umgriff des Nachbargrundstücks kommen (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2020 – 15 CS 20.45 – juris Rn. 18). Hiervon ist indes nicht auszugehen …2)“

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 27.6.2024 – 2 BV 22.501

Entnommen aus Fundstelle Bayern 07/2025, Rn. 68.