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70 Jahre Bayerische Verfassung – Stabilität, Veränderung, Reformbedarf

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von Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg 

I. An welchem Tag hat die Bayerische Verfassung Geburtstag? 

In diesen Tagen wird der 70. Geburtstag der Bayerischen Verfassung von 1946 gefeiert – mit einem Tag der offenen Tür aller Verfassungsorgane am 26.11.2016 sowie einem Festakt am 01.12.2016 im Nationaltheater. Doch an welchem Tag genau hat die Bayerische Verfassung eigentlich Geburtstag? Das ist nicht eindeutig zu sagen. Im Text der Verfassung fehlt eine Vorschrift über ihr In-Kraft-Treten. Als „Geburtstag“ kommen vier Daten in Betracht[1]: (1) Am 01.12.1946 nahm die bayerische Bevölkerung in einer Volksabstimmung die neue Verfassung mit einer Mehrheit von über 70% an. (2) Am 02.12.1946 fertigte Ministerpräsident Wilhelm Hoegner den beschlossenen Verfassungstext aus. (3) Die Bekanntmachung im Gesetz- und Verordnungsblatt erfolgte sodann am 08.12.1946. (4) Am 12.12.1946 schließlich wurden die Rechtsgültigkeit des Volksentscheids und die Annahme der Verfassung vom Landeswahlausschuss festgestellt. Angemessen erschiene als ehrwürdiger Verfassungstag der Tag der Annahme durch das Volk, also der 01.12.1946. Eingebürgert hat es sich freilich, den 08.12.1946 als Geburtstag der Verfassung anzusehen. Denn nach einer Feststellung des Ministerrats vom 04.12.1946 sollte die Verfassung mit ihrer Veröffentlichung im Bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt in Kraft treten, also am 08.12.1946 (Staatsanzeiger 1946, Nr. 28).

II. 70 Jahre Bayerische Verfassung – Anlass zum Innehalten

Zwar ist die Verfassung von 1946 nicht die am längsten gültige Verfassung Bayerns[2], aber ohne Zweifel diejenige, die „das Glück Bayerns und seines Volkes“ (Zacher, 50 Jahre Bayerische Verfassung, BayVBl. 1996, S. 521) im Hinblick auf politische Stabilität, wirtschaftliche Prosperität und soziale Balance am nachhaltigsten geprägt hat. Der 70. Geburtstag der Verfassung von 1946 ist Gelegenheit, inne zu halten und sich wieder einmal ihrer Eigenheiten und Grundlagen bewusst zu werden (III.). 70 Jahre Bayerische Verfassung bedeuten auch 70 Jahre politische und staatsrechtliche Stabilität in Bayern (IV.). Zwar ist die Verfassung in vielfältiger Weise Veränderungsprozessen unterzogen worden (V.). Dabei hat sie jedoch ihre Grundstruktur bewahrt. Für eine Revision besteht kein Anlass (VI.). Dies bedeutet indes nicht, dass es nicht in einigen Bereichen Reformbedarf gibt bzw. über Weiterentwicklungen nachgedacht werden könnte (VII.). Abschließend sei ein Blick auf die wissenschaftliche Pflege des bayerischen Staats- und Verfassungsrechts geworfen (VIII.). 

III. Eigenheiten der Bayerischen Verfassung 

1. Die Bayerische Verfassung enthält viele liebenswerte Eigenheiten. Hier nur einige Beispiele: Nach Art. 123 Abs. 3 BV dient die Erbschaftssteuer auch dazu, „die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen Einzelner zu verhindern“. Oder: „Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen“ (Art. 161 Abs. 2 BV). Art. 169 Abs. 1 BV ermöglicht es, für jeden Berufszweig „Mindestlöhne“ festzusetzen. Diese Verfassungsnormen haben bislang zwar keine praktische Wirksamkeit entfaltet, weil sie durch das Bundesrecht überlagert werden. Sie sind aber doch Ausdruck eines Verfassungstextes, der nicht nur auf die Organisation des Staates fixiert ist, nicht nur auf die Beschreibung der Organe und Funktionsmechanismen einer Demokratie, sondern der auch grundsätzliche Aussagen über das soziale Zusammenleben der Menschen macht.

2. Eine besonders wichtige Eigenheit der Bayerischen Verfassung stellt die starke Betonung plebiszitärer Elemente im Rahmen der Ausgestaltung des Demokratieprinzips dar. Zwar errichtet die Bayerische Verfassung dem Grundsatz nach eine repräsentative Demokratie, die dem vom Volk gewählten Landtag die zentrale Rolle im politischen Meinungsbildungsprozess zuweist. Jedoch kennt die Verfassung an verschiedenen Stellen starke plebiszitäre Elemente: (1) Art. 74, 75 BV sehen das Instrument der Volksgesetzgebung, bestehend aus Volksbegehren und Volksentscheid, vor. (2) Art. 75 Abs. 2 BV regelt das obligatorische Verfassungsreferendum, also die Notwendigkeit, dass eine vom Landtag mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Verfassungsänderung der Zustimmung durch das Volk in einem Volksentscheid bedarf. (3) Schließlich kennt Art. 18 Abs. 3 BV sogar die (bislang nicht praktisch gewordene) Möglichkeit der Auflösung des Parlaments durch Volksentscheid.

3. Eine signifikante Eigenheit des Bayerischen Verfassungsrechts besteht darin, dass eine Verfassungsänderung auch allein durch Volksbegehren und Volksentscheid und gegen den Willen des Landtags möglich ist. Auf diese Weise ist im Jahr 1999 der Senat (Art. 34-42 BV a.F.) abgeschafft worden. Dieses „vollplebiszitäre“ Verfassungsänderungsverfahren spielt aktuell auch in der Diskussion über die Einführung einer „Volksbefragung“ eine Rolle, nachdem der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21.11.2016 (Vf. 15-VIII-14, Vf. 8-VIII-15) die Einführung der Volksbefragung durch einfaches Landesgesetz (Art. 88a LWG) für verfassungswidrig erklärt hat (siehe hierzu Heußner, BayRVR, Net-Dokument: BayRVR2016112901 [Stand 05.12.2016] und Holzner, BayRVR, Net-Dokument: BayRVR2016120601 [Stand 07.12.2016]) . Freilich ist zu beachten, dass ein Volksentscheid zur Änderung der Verfassung, der nicht auf einen Landtagsbeschluss zurückgeht (Art. 75 Abs. 2 BV), sondern seinen Ausgangspunkt in einem Volksbegehren (Art. 74 BV) gefunden hat, zur Wirksamkeit eines Zustimmungsquorums von 25% der Stimmberechtigten bedarf. Dies hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Abschaffung des Senats entschieden (VerfGH 52, 104). Das Zustimmungsquorum ist mittlerweile in Art. 79 Abs. 1 Nr. 2 LWG verankert. Sollte man nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 21.11.2016 zur Verfassungswidrigkeit des Art. 88a LWG tatsächlich den Weg gehen wollen, das Instrument der Volksbefragung über ein Volksbegehren zur Änderung der Verfassung im Verfassungstext zu implementieren (um die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit nach Art. 75 Abs. 1 BV zu vermeiden), müsste also nicht nur die 10%-Hürde für den Erfolg des Volksbegehrens (Art. 74 Abs. 1 BV) genommen werden, es müsste im sich anschließenden Volksentscheid über die Änderung der Verfassung ein Zustimmungsquorum von 25% der Stimmberechtigten erreicht werden (Art. 79 Abs. 1 Nr. 2 LWG).

4. Nicht nur die Ausgestaltung des Demokratieprinzips mit seinen vielfältigen plebiszitären Möglichkeiten lässt die Bayerische Verfassung als echte „Bürgerverfassung“ erscheinen. Auch an anderen Stellen des Verfassungstextes zeigt sich eine hohe Bürgerfreundlichkeit: Zu nennen ist insbesondere das prozessuale Instrument der Popularklage. Mit dieser im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland einmaligen verfassungsprozessualen Option (Art. 98 Satz 4 BV) hat jede Bürgerin und jeder Bürger die Möglichkeit, einen Rechtssatz des bayerischen Landesrechts – also jedes Landesgesetz, jede landesrechtliche Rechtsverordnung und jede landesrechtliche Satzung – mit der Begründung vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof angreifen, er verletze Grundrechte der Bayerischen Verfassung. Das Besondere liegt nun darin, dass es für die Zulässigkeit einer solchen Popularklage – anders als im sonstigen Verfassungs- und Verwaltungsprozessrecht – nicht erforderlich ist, dass der Kläger in eigenen Rechten berührt ist. Unabhängig von eigenen Interessen und eigener Betroffenheit hat jedermann die Chance, jeden Rechtssatz des bayerischen Landesrechts mit der Begründung der Grundrechtswidrigkeit vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof zu Fall zu bringen. Man könnte etwa die (erneute) Einführung von Studiengebühren mit der Popularklage angreifen, obwohl man selbst gar nicht Student ist. Man könnte auch die Hundesteuersatzung einer bayerischen Gemeinde angreifen, obwohl man gar nicht in dieser Gemeinde wohnt, keinen Hund besitzt und auch nicht beabsichtigt, sich einen anzuschaffen. Nun könnte man meinen, dass ein solches prozessuales Instrument dazu einlädt, alles und jedes vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof anzugreifen, muss man doch selbst nicht betroffen sein und ist das Verfahren obendrein noch kostenfrei und ohne Rechtsanwalt möglich. Betrachtet man die Verfahrenszahlen, so fällt auf, dass die Popularklage in relativ geringem Umfang Gegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren ist.[3] Mehr als 30 Popularklagen werden pro Jahr nicht erhoben. Dies ist auch ein Argument gegen diejenigen Staatsrechtswissenschaftler, die auf dem Erfordernis einer besonderen Klagebefugnis im Verfassungs- und Verwaltungsprozessrecht beharren und dies mit der Begründung tun, Popularklagen lüden zu missbräuchlicher Klageerhebung ein und führten zu einer Überflutung der Gerichte. Die Popularklage nach Art. 98 S. 4 BV ist der Beweis dafür, dass solche Befürchtungen unbegründet sind.

5. Eine weitere Besonderheit der Bayerischen Verfassung liegt in der Fülle von lebensbereichsspezifischen Staatszielbestimmungen in den Bereichen Schule und Familie, Wirtschaft, Landwirtschaft, Arbeit und Soziales. Die Bestimmungen über die Erbschaftssteuer und die Bodenwertsteigerung wurden bereits genannt. In Art. 151 ff. BV finden sich viele solcher Staatszielbestimmungen. So regelt etwa Art. 151 Abs. 1 BV, dass die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dem Gemeinwohl dient, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle. Art. 166 Abs. 2 BV gibt jedermann das Recht, sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen (hierbei könnte man – was freilich umstritten ist – durchaus von einem „Grundrecht auf Arbeit“ sprechen). Art. 168 Abs. 1 BV legt fest, dass „jede ehrliche Arbeit den gleichen sittlichen Wert und Anspruch auf angemessenes Entgelt“ hat. Und Abs. 2 des Art. 168 regelt: „Arbeitsloses Einkommen arbeitsfähiger Personen wird nach Maßgabe der Gesetze mit Sondersteuern belegt“. Zudem hat nach Art. 168 Abs. 3 BV „jeder Bewohner Bayerns, der arbeitsunfähig ist oder dem keine Arbeit vermittelt werden kann, ein Recht auf Fürsorge“. Aus solchen verfassungsrechtlichen Normen, denen sich weitere hinzufügen ließen, spricht ein hoher sozialer und gesellschaftlicher Impetus der Bayerischen Verfassung, der freilich auch Ausdruck ihres Kompromisscharakters ist. Denn der im Jahr 1946 erarbeitete Verfassungstext ist auch ein Ergebnis eines Ringens zwischen konservativen, sozialdemokratischen und kommunistischen Kräften in der Landesversammlung. In einer Vorlesung zum Bayerischen Staatsrecht, die der Verfasser dieses Beitrags in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hören durfte, wurde folgender Satz geprägt: „Die Bayerische Verfassung liest sich in weiten Teilen wie ein politisches Programm der Jungsozialisten“.

6. Eine letzte hier zu nennende Besonderheit der BV von 1946, die auch in der Rechtsprechungspraxis der Verwaltungsgerichte eine nicht unerhebliche Rolle spielt, ist das spezifische „bayerische“ Grundrecht aus Art. 141 Abs. 3 BV, im Volksmund auch „Schwammerlparagraph“ genannt. Nach dieser Vorschrift ist der Genuss der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald- und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wild wachsender Waldfrüchte in ortsüblichem Umfang jedermann gestattet. Eine vergleichbare Norm findet sich weder im Grundgesetz noch in den Verfassungen anderer Länder und schon gar nicht in den eher technokratisch anmutenden Rechtstexten der EU-Verträge. 

IV. 70 Jahre Bayerische Verfassung – 70 Jahre Stabilität 

Eine Verfassung ist nur dann eine gute Verfassung, wenn sie in der Lage ist, die rechtlichen Fundamente für ein stabiles politisches Gemeinwesen zu legen. Zwar kann ein noch so gut konzipierter Verfassungstext allein nicht für stabile politische Verhältnisse sorgen, kommt es hierfür doch ganz wesentlich auf die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Praxis an. Jedoch kann ein Verfassungstext so gestaltet sein, dass er politische Stabilität ermöglicht oder wenigstens politischer Instabilität keinen Vorschub leistet. Blickt man auf die Geschichte des Freistaats Bayern in den letzten 70 Jahren, muss man konstatieren, dass diese Zeit von einer hohen politischen und – allmählich – auch wirtschaftlichen Stabilität geprägt war und ist. Politische Krisen waren allenfalls parteipolitische Krisen, niemals staatspolitische. Vom Instrument der Selbstauflösung des Parlaments (Art. 18 Abs. 1 BV) oder dessen Auflösung durch Volksentscheid (Art. 18 Abs. 3 BV) wurde bislang kein Gebrauch gemacht. Rücktritte von Ministerpräsidenten waren sehr selten und letztlich kein Ausdruck einer wirklichen staatspolitischen Krise. Stabilitätsfördernden Charakter hat die Bayerische Verfassung insbesondere durch die starke rechtliche Stellung der Staatsregierung. Die Bayerische Verfassung kennt – anders als das Grundgesetz – weder eine förmliche Vertrauensfrage noch ein Misstrauensvotum. Die verfassungsrechtliche Stellung des Ministerpräsidenten, der die Richtlinien der Politik bestimmt, ist nicht nur inhaltlich besonders stark – ist doch der Ministerpräsident nicht nur Regierungschef, sondern in der Sache auch Staatspräsident. Auch strukturell ist die Stellung des Ministerpräsidenten herausgehoben. Der Landtag kann den Ministerpräsidenten nicht „zu Fall bringen“. Lediglich unter den Voraussetzungen des Art. 44 Abs. 3 Satz 2 BV ist der Ministerpräsident zum Rücktritt verpflichtet, also wenn er nicht mehr das Vertrauen des Landtags genießt. Bei der Beurteilung dieser – letztlich politischen – Frage steht ihm allerdings eine Einschätzungsprärogative zu. Einer der Väter der Bayerischen Verfassung, Hans Nawiasky, hat diese Ausgestaltung des Demokratieprinzips in der Bayerischen Verfassung (starke Stellung des vom Parlament gewählten Ministerpräsidenten, kombiniert mit einer eng gefassten Rücktrittspflicht des Ministerpräsidenten) als „veredelte“ Form der parlamentarischen Demokratie bezeichnet[4]. Der einzige Fall eines Rücktritts nach Art. 44 Abs. 3 Satz 2 BV war der Wilhelm Hoegners im Jahr 1957. „Freiwillige“ Rücktritte gab es bislang drei: Hanns Seidel (1960), Max Streibl (1993) und Edmund Stoiber (2007).

V. Veränderungen

70 Jahre Stabilität bedeutet freilich nicht, dass es in dieser Zeit keine Veränderungen des Verfassungsrechts gegeben hätte. Im Gegensatz zum Grundgesetz, das angesichts seiner relativ leichten Abänderbarkeit (ohne Zustimmung des Volkes) dutzende Male geändert worden ist, hält sich die Anzahl der Änderungen der Bayerischen Verfassung im Rahmen. Die Bayerische Verfassung wurde in den letzten 70 Jahren lediglich 12 Änderungsprozessen unterzogen. Dabei gab es freilich auch signifikante Änderungen. So wurde durch das 2. Gesetz zur Änderung der Verfassung vom 15.06.1970 das aktive Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Durch das 5. Gesetz zur Änderung der Verfassung erfolgte die Verankerung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel in der Verfassung (Art. 3 Abs. 2, Art. 131 Abs. 2, Art. 141 BV). Durch das 6. Änderungsgesetz, das auf ein Volksbegehren zurückging, wurde der Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene in der Verfassung verankert (Art. 7 Abs. 2, 12 Abs. 3 BV). Ein herber Schlag für den Gesamtkontext der Bayerischen Verfassung war die Abschaffung des Senats durch die Aufhebung der Art. 34-42 BV, die auf ein Volksbegehren zurückging. Mit dem Senat hat die Bayerische Verfassung ein bundesweit einmaliges Verfassungsorgan verloren, dessen – nach wie vor aktuelles – Anliegen es war, wesentliche gesellschaftliche Gruppen in den Prozess der politischen Meinungsbildung einzubeziehen. Zu nennen sind schließlich die letzten Volksentscheide zur Änderung der Verfassung vom 15.09.2013, durch die die „Schuldenbremse“ in Art. 78 BV verankert wurde, die Etablierung eines Staatsziels der Förderung und Sicherung gleichwertiger Lebens- und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern in den Verfassungstext aufgenommen wurde (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV), die Gewährleistung einer Mindestfinanzausstattung der Kommunen (Art. 83 Abs. 2 Satz 3 BV) sowie die Stärkung des Landtags in EU-Angelegenheiten (Art. 70 Abs. 4 BV) Verfassungsrang erhielten.

Herausgegriffen sei hier die zuletzt genannte Vorschrift des Art. 70 Abs. 4 BV, die gerade in diesen Tagen verfassungspraktische Bedeutung gewinnt. Nach dieser Vorschrift kann die Staatsregierung, wenn in Angelegenheiten der Europäischen Union das Recht der Gesetzgebung (der Länder) durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU betroffen ist, in ihren verfassungsmäßigen Aufgaben durch Gesetz gebunden werden. Dies bedeutet, dass der Landtag durch Gesetz (und damit auch das Volk im Wege der Volksgesetzgebung) die Staatsregierung verpflichten kann, im Bundesrat einer Übertragung von Hoheitsrechten, die die Gesetzgebung der Länder betreffen, auf die EU entgegenzutreten. Diese in Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BV verankerte Möglichkeit ist gegenwärtig Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof. Konkret geht es um die Entscheidung über die Zulassung eines Volksbegehrens, das auf ein Gesetz zielt, mit dem die Staatsregierung verpflichtet wird, im Bundesrat gegen das sog. CETA-Abkommen zu stimmen. Das Staatsministerium des Innern hatte die Zulassung des Volksbegehrens abgelehnt und die Sache am 23.11.2016 dem Verfassungsgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Dieser hat nun binnen drei Monaten zu entscheiden (Art. 64 LWG). 

VI. Revision der Bayerischen Verfassung? 

Seit dem Jahr 1946 hat die BV also eine Reihe von Veränderungen erfahren, die teilweise durchaus substanzieller Natur waren. Der Verfassungstext in seiner Gesamtheit wurde jedoch bislang keiner Revision unterzogen. Es gab zwar eine Neubekanntmachung der Verfassung (1998), jedoch keine „Totalrevision“. Auch aktuell sind für eine „Totalrevision“ der Verfassung keine stichhaltigen Argumente erkennbar. Insofern darf auf eine Abhandlung verwiesen werden, die der Verfasser zum 60. Geburtstag der Bayerischen Verfassung im Jahr 2006 vorgelegt hat.[5] Die dort vorgetragenen Gegenargumente gegen eine „Totalrevision“ haben auch 10 Jahre später noch Relevanz. 

VII. Reformbedarf? 

Dies bedeutet freilich nicht, dass es keinen Reformbedarf gäbe oder dass nicht Veränderungen der Bayerischen Verfassung denkbar wären, über die intensiv zu diskutieren sich lohnen würde. Abgesehen von einigen sprachlichen Anpassungen und Glättungen, die der Verfassungstext guten Gewissens vertragen könnte, und redaktionellen Klarstellungen (z.B. in Art. 9 BV)[6] wäre es auch wünschenswert, über einige materielle Änderungen nachzudenken, die hier nur knapp angerissen werden können:

1. So wäre es überlegenswert, angesichts der hohen praktischen Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dieses Grundrecht eigens im Verfassungstext auszuweisen. Der Verfassungsgerichtshof leitet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 100 i.V.m. Art. 101 BV her und orientiert sich dabei weitgehend an der Rechtsprechung des BVerfG. Eine Aufnahme des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im Verfassungstext wäre der praktischen Bedeutung dieses Grundrechts (auch für das bayerische Landesrecht) angemessen.

2. Zudem erschiene es im Bereich der Grundrechte sinnvoll, auch die essentiellen Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Text der BV zu verankern. Anders als im Grundgesetz (dort Art. 2 Abs. 2 GG) ist das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Menschen in der BV nicht ausdrücklich grundrechtlich geschützt. Zwar leitet der Verfassungsgerichtshof diese Grundrechte ebenfalls aus Art. 100 und Art. 101 BV her, es ist jedoch wünschenswert und naheliegend, diese fundamentalen Grundrechte auch ausdrücklich im Text der BV festzuhalten. Dem unbefangenen Leser des Verfassungstextes drängt sich nämlich der Eindruck auf, dass das Leben und die körperliche Unversehrtheit gar nicht geschützt seien.

3. Ähnliches gilt für die Berufsfreiheit: Auch hier fehlt ein ausdrückliches, dem Art. 12 Abs. 1 GG entsprechendes Pendant auf der Ebene der BV. Zwar leitet der Verfassungsgerichtshof die Berufsfreiheit als besondere Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 101 BV her. Jedoch stellt es – zumindest aus der Sicht des Verfassers – eine empfindliche Lücke dar, dass dieses wesentliche und praktisch höchst bedeutsame Grundrecht im Verfassungstext nicht ausdrücklich normiert ist.

4. Verfassungspolitischer Diskussionsbedarf besteht auch im Hinblick auf die rechtliche Stellung des Ministerpräsidenten. Da im Verfassungsgebungsprozess im Jahr 1946 die Aufnahme eines Staatspräsidenten in den Text der Bayerischen Verfassung (erst spät und knapp) gescheitert ist[7], erfüllt der Ministerpräsident nach geltendem Verfassungsrecht zwei grundsätzlich unterschiedliche Aufgaben: Er ist zum einen „Chef“ der Staatsregierung und bestimmt die Richtlinien der Politik. Zum andern hat er staatsnotarielle und repräsentative Funktionen, indem er etwa Gesetze des Landtags ausfertigt und den Freistaat Bayern nach außen vertritt oder das Begnadigungsrecht ausübt. Der Ministerpräsident vereinigt in sich also Aufgaben eines Regierungschefs und eines Staatsoberhauptes. Dieser Aufgabendualismus hat sich zwar durchaus bewährt, er löst aber gleichwohl Diskussionsbedarf in doppelter Hinsicht aus: Zum einen könnte man darüber nachdenken, ob man nicht doch per Änderung der Verfassung die Idee eines Staatspräsidenten aufgreift, dem die Staatsnotar- und Repräsentationsbefugnisse zukommen. Angesichts der flächen- und bevölkerungsmäßigen Größe des Freistaats Bayern und seiner nationalen wie internationalen politischen Bedeutung erscheint die Einführung eines Staatspräsidenten zumindest nicht abwegig oder unangemessen. Alternativ könnte diskutiert werden, ob man der in inhaltlicher wie struktureller Hinsicht starken Stellung des Ministerpräsidenten nicht dadurch Rechnung tragen sollte, dass der Ministerpräsident unmittelbar vom Volk zu wählen ist. Die von der Verfassung herausgehobene Stellung des Ministerpräsidenten würde eine starke politische und demokratische Legitimation rechtfertigen.

5. Auch wenn es faktisch aussichtslos sein dürfte, sei an dieser Stelle doch noch einmal der Vorschlag unterbreitet, über eine Wiedereinführung des Senats nachzudenken. Die Repräsentanz maßgeblicher gesellschaftlicher Gruppen in einem Verfassungsorgan, das an der Gesetzgebung beteiligt ist, hat aus der Sicht des Verfassers weiterhin starke Argumente für sich, zumindest wenn man ein integratives Verfassungsmodell bevorzugt, das nicht nur einen technokratischen Organisationsrahmen bildet, sondern alle relevanten Gruppen und Interessen, von den Kirchen und Gewerkschaften über die Berufsverbände bis hin zur Landwirtschaft und den Wissenschaftsinstitutionen in den politischen Willensbildungsprozess mit einbindet. Zwar kann man dies auch im Rahmen von Anhörungen und Enquete-Kommissionen etc. erreichen, jedoch ist die Verankerung eines Integrationsorgans Senat im Verfassungstext von erheblich höherem – auch symbolischem – Gewicht.

6. Verfassungspolitischen Diskussionsbedarf kann man schließlich auch bei der Ausgestaltung der plebiszitären Elemente der Bayerischen Verfassung ausmachen. Zwar hat der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21.11.2016 die einfachgesetzliche Einführung der Volksbefragung in Art. 88a LWG für verfassungswidrig erklärt, jedoch in dieser Entscheidung auch zu erkennen gegeben, dass eine Verankerung der Volksbefragung im Verfassungstext selbst mit Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV (also der „Ewigkeitsklausel“) vereinbar ist. Deswegen dürfte die verfassungspolitische Diskussion in der nächsten Zeit auch um die Einführung dieses Instruments auf Verfassungsebene kreisen. Lohnenswerter als die Diskussion über die Einführung der Volksbefragung erscheint allerdings eine Debatte darüber, die Voraussetzungen für erfolgreiche Volksbegehren zu modifizieren. Insbesondere die „Hürde“ in Art. 74 Abs. 1 BV, wonach ein Volksentscheid nur herbeizuführen, also ein Volksbegehren nur erfolgreich ist, wenn ein Zehntel der stimmberechtigten Staatsbürger das Begehren nach Schaffung eines Gesetzes stellt, erscheint nicht über alle verfassungspolitischen Zweifel erhaben. Zwar ist ein Quorum für die Zulassung eines Volksentscheides schon deswegen sinnvoll, weil der Volksentscheid selbst – mit Ausnahme der auf ein Volksbegehren zurückgehenden Verfassungsänderungs-Volksentscheide (vgl. Art. 79 Abs. 1 Nr. 2 LWG) – quorenfrei ist. Auch ist zu berücksichtigen, dass der Verfassungsgerichtshof bereits unternommene Versuche zu einer signifikanten Absenkung der Hürde in Art. 74 Abs. 1 BV für mit Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV nicht vereinbar erklärt hat (VerfGH 53, 43). Jedoch ist auch in Bedacht zu nehmen, dass sich die Bevölkerungszahl im Freistaat Bayern in den vergangenen Jahren erhöht hat, so dass man durchaus sachgerechte Gründe für eine Absenkung des Quorums in Art. 74 Abs. 1 BV anführen kann. Es muss ja vielleicht nicht gleich eine Absenkung auf die Hälfte, also auf 5% sein, auch eine Absenkung auf etwa 7,5% könnte den direkt-demokratischen Prozess im Freistaat Bayern beleben. 

VIII. Wissenschaftliche Pflege des Bayerischen Staats- und Verfassungsrechts

Der praktischen Bedeutung der Bayerischen Verfassung als Bürgerverfassung und Garant einer stabilen politischen Ordnung im Freistaat Bayern entsprechend ist es auch angemessen, dass sich die wissenschaftliche Pflege des Bayerischen Staats- und Verfassungsrechts durchaus in einem Aufwind befindet. Mit mittlerweile drei aktuellen Kommentaren zur Bayerischen Verfassung (Meder/Brechmann, 5. Aufl. 2014; Holzner, 2014; Lindner/Möstl/Wolff 2009 [2. Aufl. 2017 i.E.]) stehen der Praxis und Theorie des Bayerischen Verfassungsrechts Erläuterungswerke zur Verfügung, die einen für eine ausgewogene wissenschaftliche Befassung unabdingbaren Meinungspluralismus sicherstellen. Etwas dünner ist das aktuelle Angebot auf dem Lehrbuchsektor. Insoweit sind nur zwei aktuelle Werke zu verzeichnen (Kempen, in: Becker/Heckmann/Kempen/Manssen, Öffentliches Recht in Bayern, Teil 1, 5. Aufl. 2011; Lindner, Bayerisches Staatsrecht, 2011). Hier bestünde durchaus Raum und Bedarf für ein weiteres Werk, das die wissenschaftliche Diskussion um das Bayerische Verfassungsrecht bereichern könnte. Die Bayerische Verfassung hätte es verdient.

Net-Dokument: BayRVR2016120801 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar) 

Anmerkung der Redaktion

Prof. Dr. Josef Franz Lindner01_Prof. Lindner_pass ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der juristischen Fakultät der Universität Augsburg und geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht.

 


[1] Zur Entstehung der Bayerischen Verfassung Lindner, Bayerisches Staatsrecht, 2011, Rn. 17 ff.

[2] Zu den Verfassungen Bayerns ab 1808 s. Lindner, Bayerisches Staatsrecht, 2011, Rn. 11 ff.; Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden, 4. Aufl. 2002.

[3] Vgl. dazu die Verfahrenszahlen bei Lindner, Die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs in den Jahren 2010 bis 2012 sowie in den Jahren 2013 und 2014, BayVBl. 2013, S. 549/550 sowie BayVBl. 2015, S. 693.

[4] Nawiasky, Die Verfassung des Freistaates Bayern. Handkommentar, 1948, S. 37; ders., Ergänzungsband, 1953, S. 23: „origineller Weg“. Ähnlich auch VerfGH 12, 119 (126): „besondere Form des parlamentarischen Systems”.

[5] Lindner, 60 Jahre Bayerische Verfassung. Empfiehlt sich eine Revision? BayVBl. 2006, S. 1 ff.

[6] Vorschläge dafür bei Lindner, aaO.

[7] Dazu Lindner, in: Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern. Kommentar, 2009, vor Art. 43, Rn. 10 (dort Fn. 21).