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Coronabedingten Neuregelungen in Art. 120b Abs. 3 GO zum Ferienausschuss sind verfassungswidrig

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Der Bayerische Verfassungsgerichtshof (VerfGH) hat mit unten vermerkter Entscheidung vom 10.06.2021 die anlässlich der Corona- Pandemie in die Gemeindeordnung mit Wirkung vom 12.2.2021 aufgenommenen Bestimmungen des Art. 120b Abs. 3 GO[1] zur möglichen Verlängerung des Einsetzungszeitraums eines Ferienausschusses im Jahr 2021 und zur Einsetzung eines beschließenden Ausschusses mit den Befugnissen eines Ferienausschusses in sonstigen Zeiträumen des Jahres 2021 für mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit nach Art. 12 Abs. 1 i.V. mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Bayerischen Verfassung (BV) unvereinbar und nichtig erklärt. Gemäß Art. 120b Abs. 3 GO kann der Gemeinderat den Einsetzungszeitraum eines Ferienausschusses, der grundsätzlich alle Aufgaben erledigt, für die sonst der Gemeinderat oder ein beschließender Ausschuss zuständig ist, für das Jahr 2021 abweichend von Art. 32 Abs. 4 Satz 1 GO, der eine bestimmbare Ferienzeit bis zu sechs Wochen vorsieht, durch Beschluss auf drei Monate erhöhen. Für die Zeiträume, in denen er keinen Ferienausschuss einsetzt, kann er für die Dauer von bis zu drei Monaten einen beschließenden Ausschuss einsetzen, der die Befugnisse eines Ferienausschusses hat. Der Gemeinderat kann dessen Einsetzungszeitraum um jeweils bis zu weitere drei Monate, längstens bis zum Ablauf des 31.12.2021, verlängern. Die Beschlüsse bedürfen einer Zweidrittelmehrheit der abstimmenden Mitglieder des Gemeinderats. Endet die vom Deutschen Bundestag festgestellte epidemische Lage von nationaler Tragweite, treten Beschlüsse über die Einsetzung oder Verlängerung eines beschließenden Ausschusses mit den Befugnissen eines Ferienausschusses eine Woche nach dem Ende der epidemischen Lage mit Wirkung für die Zukunft außer Kraft. Der VerfGH hat die gegen die Vorschrift erhobene Popularklage für begründet erklärt. Der unten vermerkten Pressemitteilung des VerfGH vom 10.6.2021 ist hierzu Folgendes zu entnehmen.

1. Der Grundsatz der Wahlgleichheit wird durch die Regelungen in Art. 120b Abs. 3 GO durchbrochen

„Aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV) folgt in der repräsentativen Demokratie das Gebot, die gewählten Abgeordneten in Statusfragen sowie bei der Ausübung ihrer Rechte gleichzubehandeln. Das Gebot der Gleichbehandlung kommt gemäß Art. 12 Abs. 1 BV auch mit Blick auf die Mitwirkungsrechte der Gemeinderatsmitglieder zum Tragen. Obwohl der Gemeinderat kein Parlament, sondern ein Verwaltungsorgan ist, verkörpert er auf der kommunalen Ebene in gleicher Weise das System der repräsentativen Demokratie wie der Bayerische Landtag auf Landesebene. Dies steht der Bildung von – auch beschließenden – Ausschüssen unter Wahrung des Grundsatzes der Spiegelbildlichkeit nicht entgegen, auch wenn durch die proportionale Sitzzuteilung und die jeweilige Ausschussgröße kleinere Fraktionen oder fraktionslose Ratsmitglieder bei der Zuteilung der Ausschusssitze leer ausgehen können. Die Übertragung von Befugnissen auf Ausschüsse darf jedoch nicht dazu führen, dass die dem Gemeinderat – also der Gesamtheit seiner Mitglieder – nach Art. 12 Abs. 1 BV vorbehaltene Rolle als zentrale Führungsinstanz der Gemeinde angetastet wird. Die in Art. 120b Abs. 3 GO enthaltenen Bestimmungen stellen eine weitgehende und schwerwiegende Durchbrechung des Grundsatzes der Wahlgleichheit dar, die sich nur dann rechtfertigen ließe, wenn sie zwingend erforderlich wäre, um die ansonsten vom Gemeinderat wahrgenommenen Aufgaben und Funktionen auch in den Zeiten des gegenwärtigen Pandemiegeschehens zu gewährleisten. Bloße Zweckmäßigkeitserwägungen genügen auch mit Blick auf den Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum, den der Gesetzgeber grundsätzlich bei der Ausgestaltung rechtlicher Materien hat, nicht.“

2. Die Möglichkeit der Verlängerung des Einsetzungszeitraums eines Ferienausschusses von sechs Wochen auf drei Monate ist verfassungswidrig

„…die angegriffenen Bestimmungen…sind einheitlich zu betrachten und erlauben im praktischen Ergebnis, denGemeinderat im Sinn der Gesamtheit seiner Mitglieder für das gesamte Jahr 2021 durch einen Ausschuss zu ersetzen, der, soweit er nicht selbst Ferienausschuss ist, die gleichen umfassenden Rechte wie ein Ferienausschuss hat. Dabei steht die Möglichkeit, den Einsetzungszeitraum eines Ferienausschusses imJahr 2021 von sechs Wochen (Art. 32 Abs. 4 Satz 1 GO) auf drei Monate zu erhöhen (Art. 120bAbs. 3 Satz 1GO), unter der einzigen tatbestandlichen Voraussetzung, dass eine solche Verlängerung mit einer Zweidrittelmehrheit der abstimmenden Mitglieder des Gemeinderats beschlossen wird (Art. 120b Abs. 3 Satz 4 GO); insoweit kommt es insbesondere nicht auf den Fortbestand der vom Deutschen Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite (vgl. Art. 120b Abs. 3 Satz 5 GO) an. Die Vorschrift erlaubt damit allen Gemeinden – unabhängig davon, ob sie die Einsetzung des Ferienausschusses auf den Jahresbeginn vorgezogen haben oder nicht –, dessen Einsetzungszeitraum von sechs Wochen auf drei Monate mehr als zu verdoppeln, ohne dass diese Ausweitung den Fortbestand der epidemischen Lage von nationaler Tragweite voraussetzte. Eine solch weitreichende Möglichkeit, den Einsetzungszeitraum des Ferienausschusses (abgesehen von der nötigen Zweidrittelmehrheit) ohne tatbestandliche Voraussetzungen erheblich zu verlängern, kann mit Blick auf die Schwere des Eingriffs in das Gebot der Gleichbehandlung der gewählten Gemeinderatsmitglieder keinen Bestand haben. Da die Problematik gerade im Fehlen tatbestandlicher Voraussetzungen besteht, ist auch kein Raum für eine verfassungskonforme Auslegung.“

3. Die Möglichkeit, für bis zu drei Monate einen beschließenden Ausschuss mit den Befugnissen eines Ferienausschusses einzusetzen und diese Einsetzung längstens bis zum Ablauf des 31.12.2021 zu verlängern, ist verfassungswidrig

„Tatbestandliche Voraussetzung ist insoweit die Zweidrittelmehrheit der abstimmenden Ratsmitglieder (Art. 120b Abs. 3 Satz 4 GO) sowie der Fortbestand der epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Art. 120b Abs. 3 Satz 5 GO). Darüber hinaus gibt es keinerlei Einschränkungen, mit denen dem Umstand Rechnung getragen würde, dass die Regelung zur Einsetzung eines beschließenden Ausschusses mit außerordentlichen Befugnissen lediglich als Ultima Ratio zur Aufrechterhaltung der Funktionen des Gemeinderats in der Pandemie in Betracht kommt. So wird insbesondere nicht als Voraussetzung gefordert, dass Präsenzsitzungen mit Blick auf die Größe des jeweiligen Gemeinderats und die ihm zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten unter den Bedingungen der Pandemie nicht sicher durchführbar sind. Zudem kämen etwa Hybridsitzungen, bei denen ein Teil der Gemeinderatsmitglieder der Präsenzsitzung per Ton-Bild-Übertragung zugeschaltet ist, als milderes Mittel in Betracht.“

4. Keine Nichtigkeit bereits gefasster Beschlüsse

„Zur Vermeidung der Rückabwicklung einer nicht absehbaren Zahl zwischenzeitlich von Ausschüssen i.S. des Art. 120b Abs. 3 GO getroffener Beschlüsse ist es geboten, die bis zur Bekanntgabe dieser Entscheidung von solchen Ausschüssen gefassten Beschlüsse von der Nichtigkeit der ihrer Bildung zugrunde liegenden Bestimmungen unberührt zu lassen. Des Weiteren ist es geboten, Gemeinden, die im Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung im Jahr 2021 bereits einen Ferienausschuss von längstens sechs Wochen eingesetzt hatten, die Möglichkeit zu geben, für die eigentliche Ferienzeit erneut einen Ferienausschuss einzusetzen.“

Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 10.6.2021 – Vf. 25-VII-21 (Pressemitteilung vom 10.6.2021

[https://www.bayern.verfassungsgerichtshof.de/media/images/bayverfgh/25-vii-21-pressemitt-entscheidung.pdf])

[1] Siehe FStBay Randnummer 118/2021 Ziffer 5

Entnommen aus Fundstelle Bayern, Heft 21/2021, Randnr. 249.