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Auswirkungen einer Gesetzesänderung auf die Geschäftsgrundlage eines öffentlich-rechtlichen Vertrages

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In seinem unten vermerkten Urteil vom 22.04.2021 hat sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) mit der Frage befasst, ob die Abschaffung der Erhebungsmöglichkeit von Straßenausbaubeiträgen zum 01.01.2018 den Wegfall der Geschäftsgrundlage für davor geschlossene Ablösevereinbarungen begründen kann, sodass diese nach Art. 60 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) einseitig gekündigt und dann rückabgewickelt werden können. Vorliegend soll nach einer kurzen Darstellung der einschlägigen rechtlichen Rahmenbedingungen die Entscheidung des VGH und deren allgemeine Bedeutung vorgestellt werden.

1. Rechtliche Rahmenbedingungen des KAG

Bis zum 1.1.2018 sollten bayerische Kommunen nach Art. 5 Absatz 1 Satz 3 des Kommunalabgabengesetzes (KAG) für die Verbesserung oder Erneuerung von Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wegen Beiträge zur Deckung des damit verbundenen Aufwands erheben. Aufgrund der geltenden haushaltsrechtlichen Vorgaben bestand im Regelfall eine Beitragserhebungspflicht.[1] Diese resultierte insbesondere aus den Vorgaben der Art. 61, 62 und 75 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (GO). Art. 62 Abs. 2 GO gibt eine Reihenfolge für die Einnahmenbeschaffung zur Erfüllung gemeindlicher Aufgaben vor. Die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen diente dem Ausgleich des (objektiven) Vorteils, den die jeweiligen Anlieger der Straße, die verbessert oder erneuert wurde, durch die Maßnahme erhalten haben. Vor Entstehung der Beitragspflicht konnte die Ablösung des Beitrags nach Art. 5 Abs. 9 KAG gegen eine angemessene Gegenleistung zugelassen werden.

Diese Rechtslage wurde mit dem Gesetz zur Änderung des KAG vom 26.6.2018 (GVBl S. 449; FStBay Randnummer 236/ 2018) nachhaltig geändert: Schon vor Einleitung des diesbezüglichen Gesetzgebungsverfahrens stand die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen politisch in der Diskussion. Bereits mit Gesetz zur Änderung des KAG vom 11.3.2014 (GVBl S. 70, FStBay Randnummer 147/2014) und mit Gesetz zur Änderung des KAG vom 8.3.2016 (GVBl S. 36; FstBay Randnummer 125/2016) hatte der Gesetzgeber weitreichende inhaltliche Ergänzungen der bestehenden Regelungen vorgenommen. So hat er beispielsweise in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) bb) KAG eine zeitliche Höchstgrenze für die Festsetzung eines Beitrages eingefügt. Weiterhin hat er in Art. 5b KAG die Möglichkeit geschaffen, wiederkehrende Beiträge von Grundstückseigentümern zu erheben. In Art. 5 Absatz 1a KAG wurden zusätzlich Vorgaben zur frühzeitigen Information über Maßnahmen eingeführt. Diese Änderungen schafften es nach der Einschätzung des Gesetzgebers jedoch nicht, „die erhoffte Akzeptanzsteigerung für Straßenausbaubeiträge und eine Stabilisierung des beitragsfinanzierten Systems“[2] hervorzurufen.

Häufig wurde die durch die Straßenbaumaßnahme geschaffene objektive Vorteilslage vor dem Hintergrund der finanziellen Beteiligung der Anlieger subjektiv nicht wahrgenommen. Dies zeigt nicht zuletzt das gegen die Erhebungsmöglichkeit von Straßenausbaubeiträgen gerichtete Volksbegehren, das nach der Beschlussfassung des Bayerischen Landtages zum Gesetz zur Änderung des KAG vom 26.6.2018 am 14.6.2018 zurückgezogen wurde.[3] Mit dem Gesetz zur Änderung des KAG vom 26.6.2018, mit Art. 8a des Gesetzes über die Feststellung des Haushaltsplans des Freistaates Bayern für die Haushaltsjahre 2019 und 2020 vom 24.5.2019 (GVBl S. 266) und mit dem Gesetz zur Änderung des Bayerischen Finanzausgleichsgesetzes (FAG) und der Bayerischen Durchführungsverordnung Finanzausgleichgesetz (FAGDV) vom 24.5.2019 (GVBl S. 302; FStBay Randnummer 203/2019) hat der bayerische Gesetzgeber vor diesem Hintergrund die rechtlichen Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit der Finanzierung von Straßenausbaumaßnahmen neu gestaltet: Er hat nicht nur in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 und 19 Abs. 7 Satz 1 und 3 KAG den Gemeinden rückwirkend zum 1.1.2018 die Erhebungsmöglichkeit für Straßenausbaubeiträge und Vorauszahlungen auf solche genommen, sondern in Art. 19 Abs. 8 KAG ergänzend hierzu ein eigenständiges Erstattungsverfahren für unmittelbar infolge der Änderung des KAG zum 1.1.2018 entgangene Beiträge geschaffen. Gleichzeitig hat er in Art. 13h FAG und § 15 FAGDV ein System zur zukünftigen Unterstützung der Gemeinden bei Straßenbaumaßnahmen durch eine zweckgerichtete pauschale Finanzierungsbeteiligung eingerichtet. Zusätzlich zu dieser finanziellen Unterstützung des Freistaates Bayern für die bayerischen Gemeinden wurde mit Art. 19a Abs. 1 KAG ein Härtefallfonds für den anteiligen Ausgleich besonderer Härten durch die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen zu Gunsten bestimmter Bescheidadressaten eingerichtet. Hierbei handelt es sich nach der Gesetzesbegründung und nach Art. 19a Abs. 8 KAG um eine freiwillige Leistung des Freistaates Bayern aufgrund der besonderen Übergangssituation in besonderen Härtefällen.[4]

2. Zugrundeliegender Sachverhalt und Verfahrensgang

Die Klägerin ist Eigentümerin mehrerer Grundstücke. Zwei davon liegen an Straßen an, an denen die Beklagte im Jahr 2017 Baumaßnahmen zur Erneuerung und Verbesserung durchführte. Ende August 2017 wurde der Klägerin von der Beklagten der Abschluss von Ablösevereinbarungen angeboten. Anfang Oktober schlossen die Klageparteien mehrere Vereinbarungen über die Ablöse von Straßenausbaubeiträgen. Mit Schreiben vom 14.2.2019 erklärte die Klägerin im Hinblick auf eine ihrer Ansicht nach gegebene wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse die Kündigung der bzw. den Rücktritt von den geschlossenen Ablösevereinbarungen. Die Beklagte erklärte – unter Verweis auf Vollzugsverweise des Staatsministeriums des Innern, für Sport und Inegration[5] –, dass eine Rückabwicklung der Vertragsverhältnisse rechtlich ausscheide. Daraufhin erhob die Klägerin im Juli 2019 Klage zum Verwaltungsgericht (VG), die mit Urteil vom 25.6.2020 abgewiesen wurde; das VG ließ wegen grundsätz licher Bedeutung der Rechtssache die Berufung zu. Mit Urteil vom 22.4.2021 wies der VGH die eingelegte Berufung zurück.

3. Rechtliche Würdigung des VGH: Keine Nichtigkeit und keine wirksame Kündigung der Ablösevereinbarung

Der VGH erkannte für Recht, dass eine seitens der Klägerin begehrte Rückzahlung der geleisteten Ablösebeträge im konkreten Fall ausscheide. Vor dem 1.1.2018 geschlossene Ablösevereinbarungen seien nicht auf Grund der Abschaffung der Erhebungsmöglichkeit von Straßenausbaubeiträgen zum 1.1.2018 rückwirkend nichtig geworden.[6] Auch stehe der Klägerin im Hinblick auf die nachträgliche Beseitigung der Erhebungsmöglichkeit von Straßenausbaubeiträgen ab dem 1.1.2018 kein Kündigungsrecht nach Art. 60 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG zu. Im Rahmen der Bewertung des geltend gemachten Kündigungsrechts war für den erkennenden Senat insbesondere streitentscheidend, ob die Gesetzesänderung bei Vertragsschluss vorhersehbar war, ob Art. 19 Abs. 7 und 8 KAG eine auch für Ablösevereinbarungen heranziehbare Wertentscheidung enthält, ob die Möglichkeit der Heranziehung zu Vorauszahlungen auf den Straßenausbaubeitrag für die Zumutbarkeit des Festhaltens an der Ablösevereinbarung spricht und ob der Grundsatz der Abgabengerechtigkeit vor dem Hintergrund einer uneinheitlichen Aufwandsbeteiligung innerhalb einer Anlage gegen die Zumutbarkeit des Festhaltens an der Ablösevereinbarung spricht. Vor diesem Hintergrund stützte der VGH seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Überlegungen: Er sah bereits das Vorliegen der Rücktrittsvoraussetzung der wesentlichen Änderung der für den Vertragsschluss maßgebenden Verhältnisse als zweifelhaft an.[7] Es seien gewichtige Gründe dafür gegeben, dass bei Abschluss der Ablösevereinbarungen im Oktober 2017 eine später stattfindende Rechtsänderung bereits objektiv vorhersehbar gewesen sei; dies begründete er damit, dass die gesetzliche Ausgestaltung der Straßenausbaubeiträge spätestens seit Einführung der wiederkehrenden Beiträge politisch diskutiert worden sei.[8] Jedenfalls sei das Festhalten an den geschlossenen Ablösevereinbarungen nicht unzumutbar.[9] Hierfür sei im Rahmen der Gesamtbetrachtung der maßgeblichen Umstände (des Einzelfalls) maßgeblich, dass sich der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des Art. 19 Abs. 7 und Abs. 8 KAG für die Rechtsänderung der Erhebungsmöglichkeit von Straßenausbaubeiträgen und Vorauszahlungen auf diese zum 01.01.2018 entschieden hat; entsprechend der hierbei getroffenen gesetzgeberischenWertung seien auch vor dem Stichtag geschlossene Ablösevereinbarungen gleich den vor dem Stichtag festgesetzten Beiträgen und Vorauszahlungen zu behandeln. Weiterhin betreffe die Gesetzesänderung beide Vertragsparteien gleich, da die Kommune nach dem Stichtag keine Beiträge oder Vorauszahlungen mehr erheben könne, wenn die Ablösevereinbarung gekündigt würde, sodass eine Kündigung eine einseitige Lösung im Interesse der Klägerin darstelle. Durch das Festhalten an der Vereinbarung werde auch der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG nicht verletzt, da die Klägerin auf Grund des freiwilligen Abschlusses der Ablösevereinbarung schon nicht mit den Anliegern vergleichbar sei, denen gegenüber Beiträge festgesetzt worden wären, aber wegen der Beseitigung der Erhebungsmöglichkeit nicht mehr festgesetzt werden konnten. Die Unzumutbarkeit des Festhaltens an der Ablösevereinbarung könne also auch nicht mit der Berufung auf die Abgabengerechtigkeit begründet werden.

4. Fazit im Hinblick auf die Gültigkeit von Ablösevereinbarungen

In seinem Urteil hat der VGH zwar (nur) über einen Einzelfall entschieden, die Entscheidung ist aber über diesen konkreten Fall hinaus von erheblicher Bedeutung: Einerseits kann die Argumentation des VGH zur Zumutbarkeit des Festhaltens an der Ablösevereinbarung bei anderen Ablösevereinbarungen zu Grunde gelegt werden. Vor der Abschaffung der Erhebungsmöglichkeit zum 1.1.2018 wurde in den bayerischen Kommunen eine nicht unerhebliche Zahl entsprechender Vereinbarungen geschlossen, bei denen sich potenziell dieselben Rechtsfragen stellen. Insoweit hat der VGH gerade keinen Einzel-, sondern vielmehr einen Musterfall behandelt. Andererseits ist die zugrundeliegende Situation, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen nach Abschluss einer Vereinbarung ändern, keine nur für das Straßenausbaubeitragsrecht relevante Situation. Ähnliche Problemstellungen können auch in anderen Rechtsgebieten auftreten, in denen sich die Vertragsparteien unter Zugrundelegung einer konkreten Rechtslage mit dem Abschluss einer vertraglichen Regelung durch eine Risiko(neu)verteilung unter gegenseitigem Nachgeben Rechtssicherheit erhoffen. Nachträgliche Rechtsänderungen können dann dazu führen, dass die Neubewertung der Situation ergibt, dass eine Vertragspartei ihr Ziel ohne Vertrag vermeintlich (wirtschaftlich) besser hätte erreichen können. In dieser Situation wird es zwangsläufig zu einer streitigen Auseinandersetzung um die Vereinbarung kommen. Das Urteil des VGH liefert die maßgeblichen Anhaltspunkte, um auch in vergleichbaren Situationen eine für alle Beteiligten angemessene und rechtlich tragfähige Lösung zu finden.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 22.04.2021 – 6 BV 20.2301.

GKBY 22/2021, Rn. 109

[1] VGH, U.v. 9.11.2016 – 5 B 15.2732 (GKBay Randnummer 28/2017); Matloch/Wiens, Das Erschließungsbeitragsrecht in Theorie und Praxis, Rn. 2001 m.w.N.; Driehaus,  Grschließungs- und Ausbaubeiträge, § 28 Rn. 8; Driehaus/Raden, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, § 28 Rn. 11 m.w.N.

[2] BayLT, Drs. 17/21586, S. 1.

[3] Vgl. Pressemitteilung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration vom 15.6.2018, abrufbar  unter: https://www.stmi.bayern.de/med/pressemitteilungen/pressearchiv/2018/205/index.php – Stand: 9.6.2021; Pressemitteilung der Bayerischen Staatsregierung vom 15.6.2018, abrufbar unter: https://www.bayern.de/volksbegehren-gegen-strassenausbaubeitraege-zurueckgezogen/ – Stand: 9.6.2021; Mitteilung der FREIEN WÄHLER vom 14.6.2018, abrufbar unter: https://www.fw-bayern.de/nc/aktuelles/mitteilungen/pressemitteilungen-details/landtag-beschliesst-abschaffung-der-strassenausbaubeitraege-geschaeftsgrundlage-fuer-volksbegehren-entf/ – Stand: 09.06.2021.

[4] BayLT, Drs. 18/1552, S. 4.

[5] Erläuterungen zum Vollzug des Gesetzes zur Änderung des KAG vom 20.6.2018 (GVBl S. 449) – IMS vom 10.12.2018, S. 30 ff. (http:/www.innenministerium.bayern.de).

[6] VGH, U.v. 22.4.2021, Rn. 18.

[7] VGH, U.v. 22.4.2021, Rn. 22 ff.

[8] ebenda, Rn. 24.

[9] ebenda, Rn, 25 ff.