Recht Deutschland & Europa

Personalausweis oder Reisepass ohne Geburtsurkunde

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Ein minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist und dessen vom Aufnahmemitgliedstaat ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern bezeichnet, hat Anspruch auf Ausstellung eines Personalausweises oder Reisepasses, ohne dass zuvor eine Geburtsurkunde durch seine nationalen Behörden verlangt werden darf.

Der Mitgliedstaat (hier Bulgarien) ist auch verpflichtet, das aus dem Aufnahmemitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen, das es dem Kind ermöglicht, mit jeder dieser beiden Personen sein Recht auszuüben, sich im Gebiet der Union frei zu bewegen und aufzuhalten. Das in Bulgarien geltende Muster einer Geburtsurkunde sieht nur ein Feld für die „Mutter“ und ein weiteres Feld für den „Vater“ vor, wobei in jedem dieser Felder nur ein einziger Name aufgeführt werden kann. Da Informationen über die Identität der leiblichen Mutter des Kindes fehlte und die Angabe zweier Elternteile weiblichen Geschlechts in einer Geburtsurkunde der öffentlichen Ordnung in Bulgarien zuwiderläuft, weil dort die Ehe zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts nicht zulässig ist, konnte die Urkunde nicht den Vorgaben entsprechend ausgefüllt werden. Die Weigerung der bulgarischen Behörden, die Geburt eines bulgarischen Staatsangehörigen in ein Register einzutragen, die in einem anderen Mitgliedstaat stattfand bzw. das Nichtanerkennen der in diesem Mitgliedstaat ausgestellten Geburtsurkunde, in der zwei Mütter angegeben sind, erschwert die Ausstellung eines bulgarischen Identitätsdokuments.

Allen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten muss die Ausübung des jedem Unionsbürgers durch Art. 21 Abs. 1 AEUV zuerkannten Rechts ermöglicht werden, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Daher sind die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2004/387 verpflichtet, ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit angibt. Zu den Rechten, die den Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistet werden, gehört das Recht, sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch, wenn sie dorthin zurückkehren, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, ein normales Familienleben zu führen, indem sie dort mit ihren Familienangehörigen zusammenleben.

Zwar fällt das Personenstandsrecht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, denen es freisteht, in ihrem nationalen Recht für Personen gleichen Geschlechts die Ehe oder die Elternschaft vorzusehen oder nicht vorzusehen. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch das Unionsrecht, insbesondere die Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger, beachten und hierzu den in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht festgestellten Personenstand anerkennen. Im vorliegenden Fall widerspricht die Pflicht eines Mitgliedstaats, einem Kind mit der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, das in einem anderen Mitgliedstaat geboren wurde, in dem die Geburtsurkunde ausgestellt wurde, die zwei Personen desselben Geschlechts als seine Eltern ausweist, ein Identitätsdokument auszustellen und das Abstammungsverhältnis zwischen diesem Kind und jeder dieser beiden Personen im Rahmen der Ausübung seiner Rechte aus Art. 21 AEUV und den damit zusammenhängenden Sekundärrechtsakten anzuerkennen, weder der nationalen Identität noch der öffentlichen Ordnung dieses Mitgliedstaats.

Diese Pflicht bedeutet nämlich nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht die Elternschaft von Personen gleichen Geschlechts vorsehen müsste oder das Abstammungsverhältnis zwischen dem Kind und den Personen, die in der von den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellten Geburtsurkunde als seine Eltern genannt sind, zu anderen Zwecken als der Ausübung der diesem Kind aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte anerkennen müsste.

EuGH, U.v. 14.12.2021, C-490/20, PM Nr. 221/21

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