Recht Deutschland & Europa

Rentenversicherungspflicht bei Eintritt eines Arbeitsunfalls als Voraussetzung für eine vorzeitige Wartezeiterfüllung

© pla2na - stock.adobe.com
  1. Die Rentenversicherungspflicht bei Eintritt eines Arbeitsunfalls als Voraussetzung für eine vorzeitige Wartezeiterfüllung ist mithilfe einer vorausschauenden Prognose auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des Unfalls bekannten Umstände zu beurteilen.
  2. Die objektive Beweislast für das Bestehen von Rentenversicherungspflicht bei Eintritt des Arbeitsunfalls liegt beim Rentenantragsteller.

BSG, Urt. v. 21.10.2021 – B 5 R 1/21 R –

[§§ 7 Abs. 1, 8 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IV; §§ 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1, 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5, 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 und 4, 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, 300 SGB VI; §§ 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst. b, 8 SGB VII]

 

I. Im Streit stehen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Der im Januar 1981 geborene Kläger besuchte seit September 1998 eine Abendrealschule. Im zweiten Schuljahr sollte der Unterricht jeweils am Vormittag in Vollzeit stattfinden. Der Kläger zog sich jedoch am 20.9.1999, dem ersten Schultag nach den Sommerferien, auf dem Weg zur Schule bei einem Verkehrsunfall eine Querschnittslähmung zu. Die zuständige Unfallkasse erkannte dies als Arbeitsunfall an; sie gewährt dem Kläger eine Verletztenrente. Im Rentenversicherungskonto des Klägers sind bis einschließlich Juni 1999 vier Monate mit Pflichtbeitragszeiten und für September 1999 aufgrund entsprechender Arbeitgebermeldungen zwei nicht versicherungspflichtige (geringfügige) Beschäftigungen gespeichert.

Im Oktober 2013 beantragte der Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung. Der beklagte Rentenversicherungsträger lehnte eine Rentenzahlung ab, weil die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht erfüllt sei. Die Wartezeit sei auch nicht im Hinblick auf den Arbeitsunfall als vorzeitig erfüllt anzusehen, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei (Bescheid v. 5.11.2013, Widerspruchsbescheid v. 2.4.2014). Nach umfangreichen Ermittlungen zu den damals vom Kläger ausgeübten Beschäftigungen, über die keine Unterlagen mehr existieren, hat das SG die Klage abgewiesen. Es sei nicht nachweisbar, dass der Kläger im September 1999 entgegen den bei der AOK eingereichten Meldungen eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt habe (Urt. v. 25.9.2019).

Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urt. v. 1.12.2020). Zwar stehe aufgrund der Beweisaufnahme fest, dass der Kläger im September 1999 sowohl bei einer Reinigungsfirma als auch bei einer Tankstelle gegen Arbeitsentgelt beschäftigt gewesen sei. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass es sich dabei um geringfügige und deshalb nicht versicherungspflichtige Beschäftigungen gehandelt habe. Die objektive Beweislast dafür, dass zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls eine versicherungspflichtige Beschäftigung i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ausgeübt worden sei, liege beim Kläger.

Der Kläger rügt mit seiner vom LSG zugelassenen Revision sinngemäß eine Verletzung von § 53 Abs. 1 SGB VI. Der Wortlaut der Vorschrift gebe für die vom Berufungsgericht zur Beurteilung des Vorliegens einer versicherungspflichtigen Beschäftigung angewandte vorausschauende Betrachtungsweise nichts her. Eine solche Vorgehensweise widerspreche dem Schutzzweck des § 53 SGB VI. Er habe in seiner Beschäftigung bei der Tankstelle bis zum 20.9.1999 698 DM verdient und somit die damalige Geringfügigkeitsgrenze von 630 DM bereits im ersten Monat überschritten. Eine versicherungspflichtige Beschäftigung müsse als gesetzlicher Regelfall so lange angenommen werden, bis die Voraussetzungen für eine geringfügige Beschäftigung positiv nachgewiesen seien.

II. Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG)

Die Entscheidung des LSG, seine Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückzuweisen, lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht den die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 5.11.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.4.2014 nicht für rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG erachtet hat, weil es nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen konnte, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls am 20.9.1999 versicherungspflichtig beschäftigt war.

Rechtsgrundlage für einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 SGB VI (i.d.F., die die Vorschrift durch Art. 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz v. 20.4.2007, BGBl. I S. 554, mit Wirkung ab dem 1.1.2008 erhalten hat). Die im Jahr 1999 noch maßgebliche Fassung der §§ 43, 44 SGB VI (Renten wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit) ist nicht mehr einschlägig, weil der Kläger die Rentenleistung erstmals im Oktober 2013 beantragt hat (vgl. § 300 Abs. 1 und 2 SGB VI).

Das alte und das neue Recht der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit unterscheiden sich nur hinsichtlich der gesundheitlichen Voraussetzungen für eine solche Rente. Die hier allein streitbefangenen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind hingegen gleich geblieben (vgl. BSG, Urt. v. 5.10.2005 – B 5 RJ 6/05 R – SozR 4-2600 § 43 Nr. 5 RdNr. 16). Insbesondere ist § 53 Abs. 1 SGB VI in seiner auch heute noch maßgeblichen Fassung (von Art. 5 Nr. 3 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen UV in das Sozialgesetzbuch v. 7.8.1996, BGBl. I S. 1254) bereits am 1.1.1997 in Kraft getreten. Damit kommt es auf den in § 305 SGB VI geregelten besonderen Vertrauensschutz bei der Änderung von Wartezeitvorschriften hier nicht an.

Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Die Voraussetzung der Nr. 2 – Pflichtbeitragszeit von drei Jahren bzw. sog. „Drei-Fünftel-Belegung“ – muss jedoch nicht vorliegen, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestands eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist (§ 43 Abs. 5 SGB VI – s. dazu BSG, Urt. v. 8.12.2005 – B 13 RJ 40/04 R – Breith. 2006, 576 = BSGE 95, 293 = SozR 4-2600 § 43 Nr. 6, RdNr. 17 m.w.N.).

Der Kläger war im September 1999 „Versicherter“ sowohl i.S.d. § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI als auch i.S.d. § 53 Abs. 1 SGB VI. Nach den Feststellungen des LSG wurden für ihn bis einschließlich Juni 1999 Beiträge zur gesetzlichen RV für vier Monate entrichtet (zum Begriff des Versicherten i.S.v. § 1252 Abs. 1 Nr. 1 RVO – der Vorgängerregelung zu § 53 SGB VI – vgl. BSG, Urt. v. 19.6.1997 – 13 RJ 81/96 – Juris, RdNr. 21 m.w.N.). Jedoch hatte er die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (vgl. § 50 Abs. 1 SGB VI), bei der alle Kalendermonate mit Beitragszeiten und Ersatzzeiten zu berücksichtigen sind (vgl. § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI), nach den Feststellungen des LSG zu den vorhandenen rentenrechtlichen Zeiten bei Weitem noch nicht erreicht. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung kann er daher nur vorweisen, wenn bei ihm die allgemeine Wartezeit als vorzeitig erfüllt gilt, weil er wegen eines Arbeitsunfalls vermindert erwerbsfähig geworden ist (§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI).

Die Anwendung dieser Ausnahmevorschrift zur vorzeitigen Wartezeiterfüllung setzt nach der Regelung in § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI voraus, dass der Versicherte bei Eintritt des Arbeitsunfalls versicherungspflichtig war oder in den letzten zwei Jahren davor mindestens ein Jahr Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat. In Betracht kommt hier nur die erstgenannte Alternative. Insoweit genügt es, wenn im Zeitpunkt unmittelbar vor dem Unfallereignis – das kann auch ein Wegeunfall i.S.v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII sein – aufgrund irgendeines Tatbestands der §§ 1 ff. SGB VI Versicherungspflicht in der gesetzlichen RV bestand.

Nicht erforderlich ist es, dass gerade die Beschäftigung oder Tätigkeit, bei der sich der Arbeitsunfall ereignete (versicherte Tätigkeit i.S.v. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII), rentenversicherungspflichtig war (vgl. Wegener/Michgehl in: Ruland/Dünn, GK-SGB VI, § 53 RdNr. 36c, Stand der Einzelkommentierung Juni 2018; Dankelmann in: Kreikebohm/Roßbach, SGB VI, 6. Aufl. 2021, § 53 RdNr. 5; ebenso bereits BSG, Urt. v. 1.12.1982 – 4 RJ 9/82 – BSGE 54, 199/201 = SozR 2200 § 1252 Nr. 3 S. 12). Dass der Kläger den Unfall auf dem Weg zur Abendschule erlitt und dabei durch die Schülerunfallversicherung geschützt war (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst. b SGB VII, s. dazu Lilienfeld in Kass. Komm. Sozialversicherungsrecht, § 2 SGB VII RdNr. 34, Stand: der Einzelkommentierung Juli 2017; zum Wegeunfall vgl. BSG, Urt. v. 6.10.2020 – B 2 U 9/19 R – Juris, RdNr. 19 f.) der Schulbesuch selbst aber nicht zur Rentenversicherungspflicht führte, ist somit für eine vorzeitige Erfüllung der Wartezeit ohne Bedeutung.

Eine Rentenversicherungspflicht des Klägers unmittelbar vor dem Unfall am 20.9.1999 ist hier nur auf der Grundlage von § 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB VI möglich. Nach dieser seit dem 1.1.1992 bis heute unverändert geltenden Vorschrift sind in der gesetzlichen RV alle Personen versicherungspflichtig, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Nähere Vorgaben dazu, wann eine Beschäftigung anzunehmen ist, enthält § 7 Abs. 1 SGB IV (hier noch maßgeblich in der ab 1.7.1977 geltenden Ursprungsfassung). Danach ist Beschäftigung eine nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Hierzu hat das LSG für den Senat bindend (vgl. § 163 SGG) festgestellt, dass der Kläger im September 1999 in diesem Sinne sowohl bei der Reinigungsfirma V als auch bei der Tankstelle G beschäftigt war. Das Berufungsgericht konnte jedoch nicht die Überzeugung davon gewinnen, dass der Kläger mit diesen Beschäftigungen mehr als nur geringfügig beschäftigt war. Es hat daraus geschlossen, dass die nach § 43 i.V.m. § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGB VI für eine Rente wegen Erwerbsminderung anspruchsbegründende Tatsache des Bestehens von Rentenversicherungspflicht bei Eintritt des Arbeitsunfalls nicht erwiesen sei und dieser Umstand zu Lasten des Klägers gehe. Diese Rechtsanwendung durch das LSG ist nicht zu beanstanden. Die von der Revision dagegen vorgebrachten Angriffe haben keinen Erfolg.

Nach der im September 1999 maßgeblichen Rechtslage waren Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt und damit grundsätzlich nach § 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB VI rentenversicherungspflichtig waren, gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI (i.d.F. von Art. 4 Nr. 3 des Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse v. 24.3.1999, BGBl. I S. 388 [a.F.]) in dieser Beschäftigung als versicherungsfrei zu behandeln, sofern sie eine geringfügige Beschäftigung i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB IV ausgeübt haben. Diese Regelung zur Versicherungsfreiheit bei geringfügiger Beschäftigung wird nach ständiger Rspr. des BSG gegenüber dem Grundtatbestand der Versicherungspflicht als Ausnahmebestimmung angesehen (vgl. BSG, Urt. v. 16.4.1985 – 12 RK 53/83 – Breith. 1986, 6/9 = BSGE 58, 67/71 = SozR 2200 § 165 Nr. 79 S. 122; BSG, Urt. v. 25.3.2004 – B 12 KR 9/02 R – Juris, RdNr. 19; BSG, Urt. v. 15.7.2009 – B 12 KR 14/08 R – SozR 4-2500 § 7 Nr. 1 RdNr. 22 ff.; BSG, Urt. v. 9.11.2011 – B 12 R 1/10 R – Breith. 2012, 852 = BSGE 109, 265 = SozR 4-2600 § 2 Nr. 15, RdNr. 16; BSG, Urt. v. 31.3.2017 – B 12 KR 16/14 R – BSGE 123, 40 = SozR 4-2600 § 163 Nr. 1, RdNr. 26).

Nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV a.F. (i.d.F. von Art. 1 Nr. 2 Buchst. a des Gesetzes v. 24.3.1999) lag eine geringfügige Beschäftigung vor, wenn die Beschäftigung „regelmäßig“ weniger als fünfzehn Stunden in der Woche ausgeübt wurde und das Arbeitsentgelt „regelmäßig“ im Monat 630 DM nicht überstieg (sog. Entgeltgeringfügigkeit, vgl. BSG, Urt. v. 14.7.2004 – B 12KR 7/04 R – SozR 4-2400 § 22 Nr. 1 RdNr. 8). Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB IV a.F. waren mehrere geringfügige Beschäftigungen nach Abs. 1 Nr. 1, a.a.O., zusammenzurechnen. § 8 Abs. 2 Satz 2 SGB IV a.F. ordnete an, dass eine geringfügige Beschäftigung nicht mehr vorlag, sobald die Voraussetzungen des Abs. 1, a.a.O., entfielen. Ergänzend bestimmte zudem § 5 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 SGB VI a.F. speziell für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung (mit Geltungsvorrang gemäß § 1 Abs. 3 SGB IV), dass die Versicherungsfreiheit für eine entgeltgeringfügige Beschäftigung (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV a.F.) nicht eintrat, wenn der Beschäftigte durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber auf die Versicherungsfreiheit verzichtete. Ein solcher Verzicht konnte nur mit Wirkung für die Zukunft und bei mehreren geringfügigen Beschäftigungen nur einheitlich erklärt werden und war für die Dauer der Beschäftigungen bindend (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 SGB VI a.F.).

Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Frage, ob eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder ausnahmsweise eine versicherungsfreie entgeltgeringfügige Beschäftigung vorliegt, auf der Grundlage einer vorausschauenden Betrachtungsweise zum Zeitpunkt des Eintritts in die Beschäftigung zu beurteilen ist (s. bereits BSG, Urt. v. 20.10.1960 – 7 RAr 80/58 – Breith. 1961, 271/272 = BSGE 13, 98/100 = SozR Nr. 1 zu § 75a AVAVG a.F. = Juris, RdNr. 14 – unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Reichsversicherungsamts; BSG, Urt. v. 30.5.1978 – 7 RAr 48/77 – Breith. 1979, 728 = SozR 4100 § 102 Nr. 3 S. 3; erstmals zu § 8 SGB IV vgl. BSG, Urt. v. 28.2.1984 – 12 RK 21/83 – SozR 2100 § 8 Nr. 4 S. 4; s. auch BSG, Urt. v. 21.5.1996 – 12 RK 64/94 – BSGE 78, 223/225 = SozR 3-2500 § 226 Nr. 2 S. 3; BSG, Urt. v. 11.3.2009 – B 12 R 11/07 R – BSGE 103, 17 = SozR 4-2400 § 7a Nr. 2, RdNr. 28; ausführlich BSG, Urt. v. 27.7.2011 – B 12 R 15/09 R – SozR 4-2600 § 5 Nr. 6 RdNr. 15 ff.; BSG, Urt. v. 23.4.2015 – B 5 RE 19/14 R – BSGE 118, 282 = SozR 4-2600 § 5 Nr. 7, RdNr. 14; zum Überschreiten des regelmäßigen Arbeitseinkommens i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG ebenso BSG, Urt. v. 28.3.2019 – B 10 LW 1/17 R – BSGE 128, 1 = SozR 4-5868 § 3 Nr. 4, RdNr. 20).

Nach der Rspr. des BSG muss schon zum Zeitpunkt der Aufnahme einer Beschäftigung für alle Beteiligten – den Arbeitnehmer, den Arbeitgeber und auch den Versicherungsträger – wegen der mit einer Versicherungspflicht verbundenen Pflicht zur Entrichtung von Beiträgen und möglicherweise daraus resultierenden Leistungsansprüchen feststehen, ob für diese Beschäftigung Versicherungspflicht oder aber Versicherungsfreiheit besteht (vgl. BSG, Urt. v. 27.7.2011 – B 12 R 15/09 R, a.a.O., RdNr. 16). Deshalb ist notwendigerweise am Beginn des jeweils zu beurteilenden Lebenssachverhalts auf der Grundlage des zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Erkenntnisstands eine Prognose anzustellen, ob die zu beurteilende Beschäftigung (hier: nach der Rechtslage im September 1999) „regelmäßig“ weniger als fünfzehn Stunden in der Woche ausgeübt wird und das Arbeitsentgelt „regelmäßig“ im Monat 630 DM nicht übersteigen wird. Grundlage einer solchen Prognose können lediglich Umstände sein, von denen in diesem Zeitpunkt bei normalem Ablauf der Dinge anzunehmen ist, dass sie die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt bestimmen werden. Erweist sich eine darauf gegründete Prognose im Nachhinein als unzutreffend, so bleibt sie gleichwohl für die Vergangenheit maßgebend. Nur wenn die Abweichungen vom ursprünglich zugrunde gelegten Sachverhalt die Annahme rechtfertigen, dass sich die das Arbeitsentgelt und die Arbeitszeit bestimmenden Umstände nicht nur vorübergehend geändert haben, führt das für die Zukunft zu einer veränderten Beurteilung des versicherungsrechtlichen Status (vgl. BSG, Urt. v. 27.7.2011 – B 12 R 15/09 R, a.a.O., RdNr. 17; BSG, Urt. v. 23.4.2015 – B 5 RE 19/14 R, a.a.O., RdNr. 14).

Zutreffend hat das Berufungsgericht auch angenommen, dass diese Grundsätze ebenso gelten, wenn – wie hier – zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden ist, ob für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit wegen Entgeltgeringfügigkeit bestand. Auch dann ist die Beurteilung ausgehend vom damals vorhandenen Erkenntnisstand im Sinne einer vorausschauenden Prognose vorzunehmen (vgl. BSG, Urt. v. 27.7.2011 – B 12 R 15/09 R – SozR 4-2600 § 5 Nr. 6 RdNr. 18; zur vergleichbaren Problematik bei der Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 3 Abs. 1 ALG s. auch BSG, Urt. v. 28.3.2019 – B 10 LW1/ 17 R – BSGE 128, 1 = SozR 4-5868 § 3 Nr. 4, RdNr. 21, 23). Dabei ist für die Einschätzung der voraussichtlichen Gestaltung eines Arbeitsverhältnisses in erster Linie an den Arbeitsvertrag anzuknüpfen (vgl. BSG, Urt. v. 27.7.2011, a.a.O., RdNr. 20; s. auch BSG, Urt. v. 11.3.2009 – B 12 R 11/07 R – BSGE 103, 17 = SozR 4-2400 § 7a Nr. 2, RdNr. 27). Nur wenn sich daraus keine Hinweise ergeben, kann an die Erfahrungen der Vergangenheit bei vergleichbaren Arbeitnehmern angeknüpft werden. Insbesondere bei schwankendem Arbeitsentgelt ist bei Anwendung der Entgeltgeringfügigkeitsgrenze auf den Zeitraum eines Jahres abzustellen (vgl. BSG, Urt. v. 27.7.2011, a.a.O., RdNr. 20).

Die Einwendungen des Klägers gegen die Anwendung der vorausschauenden Betrachtungsweise zur Beurteilung des Vorliegens von Rentenversicherungspflicht auch im Rahmen der Regelung zur vorzeitigen Wartezeiterfüllung im Fall der Erwerbsunfähigkeit wegen eines Arbeitsunfalls (§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Satz 2 SGB VI) greifen nicht durch.

Der Kläger macht geltend, die vorausschauende Betrachtungsweise diene lediglich dazu, ein schwankendes Einkommen über die Zeit auszugleichen, damit einmalige Ausreißer unschädlich seien. Von einem einmaligen Ausreißer könne in seinem Fall jedoch keine Rede sein, da er bereits im ersten Monat der Aufnahme seiner Beschäftigung bei der Tankstelle ein Entgelt von 698 DM – mithin über der Entgeltgeringfügigkeitsgrenze von 630 DM – erzielt habe. Mit dieser Argumentation wird der rechtfertigende Grund für die vorausschauende Betrachtungsweise jedoch nicht zutreffend erfasst. Dieser liegt – wie bereits ausgeführt – vornehmlich darin, dass der versicherungsrechtliche Status des Arbeitnehmers trotz der stets vorhandenen Ungewissheit über die künftige tatsächliche Entwicklung des Beschäftigungsverhältnisses bereits zu dessen Beginn bestimmt werden muss, damit alle Beteiligten über ihre damit verbundenen Pflichten und Rechte Klarheit haben (s. dazu erneut BSG, Urt. v. 27.7.2011 – B 12 R 15/09 R – SozR 4-2600 § 5 Nr. 6 RdNr. 20 m.w.N.; BSG, Urt. v. 28.3.2019 – B 10 LW 1/17 R – BSGE 128, 1 = SozR 4-5868 § 3 Nr. 4, RdNr. 23).

Hingegen wird der Ausgleich eines schwankenden Einkommens nicht durch die Methodik der vorausschauenden Prognose als solche, sondern in erster Linie durch den dabei zu betrachtenden Jahreszeitraum bewirkt (vgl. BSG, Urt. v. 27.7.2011, a.a.O.). Bei Maßgeblichkeit eines Jahreszeitraums kommt jedoch dem Umstand, dass das vom Kläger erzielte Arbeitsentgelt im ersten Monat seiner Beschäftigung bei der Tankstelle und zudem bereits bis zum 20.9.1999 die Geringfügigkeitsgrenze überschritt (und ohne den Unfall für den gesamten Monat September möglicherweise noch höher ausgefallen wäre), keine Bedeutung zu. Ein solches Überschreiten in einem Monat präjudiziert in keiner Weise, ob das Arbeitsverhältnis insbesondere nach den vereinbarten arbeitsvertraglichen Regelungen so ausgestaltet war, dass sowohl das Arbeitsentgelt als auch die Arbeitszeit „regelmäßig“ die Geringfügigkeitsgrenzen nicht überschreiten. In diesem Sinne hat das LSG zutreffend ausgeführt, es bleibe trotz des vom Kläger bis zum 20.9.1999 erwirtschafteten Entgelts von 698 DM offen, ob ein solch hoher Lohn regelmäßig zu erwarten gewesen sei oder dies in den Folgemonaten entsprechend der an die AOK übermittelten Meldung einer nicht versicherungspflichtigen (geringfügigen) Beschäftigung wieder hätte ausgeglichen werden sollen.

Auch dem Einwand des Klägers, für die bei Auslegung des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV a.F. entwickelte vorausschauende Betrachtungsweise sei bei Anwendung des § 53 Abs. 1 SGB VI im Hinblick auf dessen Schutzzweck kein Raum, zumal diese Vorschrift allein auf den tatsächlichen Zeitpunkt des Eintritts des Arbeitsunfalls abstelle, ist nicht zu folgen. Allerdings bestimmt der Wortlaut des § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, dass der Versicherte „bei Eintritt des Arbeitsunfalls“ versicherungspflichtig gewesen sein muss. Deshalb ist es erforderlich, die Beurteilung des Vorliegens von Versicherungspflicht oder von Versicherungsfreiheit aufgrund entgeltgeringfügiger Beschäftigung nicht nur zu Beginn des fraglichen Arbeitsverhältnisses, sondern auch unter Berücksichtigung der bis zum Zeitpunkt unmittelbar vor Eintritt des Arbeitsunfalls bekannten – möglicherweise veränderten – Umstände (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 2 SGB IV) vorzunehmen. Auch diese erneute Beurteilung muss aber nach den allgemeinen Grundsätzen zur Feststellung von Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit erfolgen; für eine abweichende Vorgehensweise gibt es keinen rechtfertigenden Grund.

Gegen eine abweichende Betrachtungsweise sprechen der Sinn und Zweck des § 53 Abs. 1 SGB VI, wie sie der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht hat. Mit der Einfügung des – die bisherige Rechtslage zur fiktiven Wartezeiterfüllung bei Arbeitsunfällen in § 1252 Abs. 1 RVO modifizierenden – Satzes 2 in § 53 Abs. 1 SGB VI durch das Rentenreformgesetz 1992 sollte sichergestellt werden, dass künftig der Vorteil einer vorzeitigen Wartezeiterfüllung nur wirksam wird, wenn „der Versicherte zum Zeitpunkt des Unfalls pflichtversichert war“. Es sollte auf diese Weise verhindert werden, dass aktuell nicht versicherungspflichtige Beschäftigte sich weiterhin nur durch einen einzigen Beitrag die Möglichkeit einer zusätzlichen Absicherung bei einem Arbeitsunfall verschaffen können (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf des RRG 1992, BT-Drucks. 11/4124 S. 165 – zu § 53; allgemein zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer Ausnahme von der Mindestversicherungszeit vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.7.1984 – 1 BvL 24/83 – BVerfGE 67, 231/238 = SozR 2200 § 1252 Nr. 4 S. 14 f.). Zweck der Regelung war somit die Einschränkung der für einen bestimmten Personenkreis als ungerechtfertigt angesehenen Vergünstigung der vorzeitigen Wartezeiterfüllung. Diese sollte nur noch jenen Versicherten zugute kommen, die im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls tatsächlich pflichtversichert waren und hierdurch eine enge Verbindung zur gesetzlichen RV aufwiesen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es fernliegend, die Beurteilung der Versicherungspflicht im Rahmen des § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI nach anderen (großzügigeren) Grundsätzen vorzunehmen als im Rahmen der originären Bestimmung von Versicherungspflicht nach den §§ 1 ff. SGB VI. Im Übrigen ist die Beurteilung der Versicherungspflicht bei Eintritt des Arbeitsunfalls nach einer vorausschauenden Betrachtungsweise für die Versicherten nicht zwangsläufig nachteilig. Es sind ebenso Fallgestaltungen denkbar, bei denen nach diesen Grundsätzen Versicherungspflicht anzunehmen ist, während eine retrospektive Betrachtung zu dem Ergebnis gelangen würde, dass bis zum Eintritt des Unfalls die Grenzen der Entgeltgeringfügigkeit noch nicht überschritten waren. Nach diesen rechtlichen Maßstäben hält die Beurteilung des Berufungsgerichts, es sei nicht mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit feststellbar, dass der Kläger bei Eintritt des Arbeitsunfalls am 20.9.1999 versicherungspflichtig war, und die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, dass damit kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund der Folgen des Unfalls vom 20.9.1999 bestehe, einer Überprüfung durch das Revisionsgericht stand.

Im Streitfall ist es für die Durchsetzung eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung erforderlich, dass die tatsächlichen Umstände, aus denen sich eine Erfüllung der Wartezeit ergibt, zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen (vgl. § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Dazu gehören für die Konstellation einer vorzeitigen Erfüllung der Wartezeit wegen eines Arbeitsunfalls auch die tatsächlichen Umstände, aus denen das Bestehen von Versicherungspflicht bei Eintritt des Arbeitsunfalls (§ 53 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 SGB VI) abgeleitet werden kann, sowie die auf dieser Grundlage anzustellende Prognose. Die Prognose besteht in der Feststellung einer hypothetischen Tatsache und ist ebenso wie die Feststellung der für sie erforderlichen Anknüpfungstatsachen allein Aufgabe der Tatsacheninstanzen (vgl. zuletzt BSG, Urt. v. 27.3.2020 – B 10 EG 7/18 R – BSGE 130, 103 = SozR 4-7837 § 1 Nr. 9, RdNr. 30 ff. m.w.N.; BSG, Urt. v. 21.7.2021 – B 14 AS 18/20 R – Juris, RdNr. 15). Die vom LSG getroffene Prognose ist für das Revisionsgericht bindend (vgl. § 163 SGG), sofern sie nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen wird. Auch ohne Verfahrensrüge hat das Revisionsgericht jedoch zu prüfen, ob das LSG für seine Prognose sachgerechte Kriterien gewählt hat oder ob die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (vgl. BSG, Urt. v. 27.3.2020 – B 10 EG 7/18 R, a.a.O., RdNr. 32 m.w.N.).

Hier ist das LSG nach eingehender Würdigung der vom SG nach umfangreichen Ermittlungen festgestellten Tatsachen zu dem Ergebnis gelangt, es könne bei einer prospektiven Betrachtung nicht mit Bestimmtheit festgestellt werden, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls selbst bei Zusammenrechnung der beiden von ihm ausgeübten Beschäftigungen (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB IV a.F.) eine mehr als geringfügige Beschäftigung ausgeübt habe und deshalb versicherungspflichtig gewesen sei. Eine Verfahrensrüge hiergegen i.S.d. § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG hat der Kläger mit seiner Revision nicht erhoben. Ungeachtet dessen ist hier nichts dafür ersichtlich, dass die vom LSG getroffene Prognose auf rechtlich fehlerhaften Erwägungen gründen könnte (zur Maßgeblichkeit der vorausschauenden Betrachtungsweise s. oben).

Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, dass die Nichterweislichkeit des Tatbestandsmerkmals der Versicherungspflicht bei Eintritt des Arbeitsunfalls in § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI nach den allgemeinen Regeln der Beweislastverteilung zu Lasten des Klägers geht. Nach diesen Grundsätzen belastet die Nichterweislichkeit einer Tatsache im Zweifel denjenigen Beteiligten, der aus ihr eine günstige Rechtsfolge herleiten will. Mithin trägt derjenige, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, im Zweifel die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen. Welche Tatsachen rechtsbegründend sind, ist regelmäßig den Normen des materiellen Rechts zu entnehmen. Nur wenn sich aus ihnen die Beweislastverteilung nicht klar ergibt, ist sie hilfsweise nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen unter Heranziehung von Kriterien wie z.B. der Zumutbarkeit der Belastung mit dem Beweisnachteil, der Verantwortungssphäre oder auch des Kriteriums von Regel und Ausnahme zu bestimmen (vgl. BSG, Urt. v. 26.11.1992 – 7 RAr 38/92 – Breith. 1993, 770/772 = BSGE 71, 256/260 = SozR 3-4100 § 119 Nr. 7 S. 32; BSG, Urt. v. 14.10.2014 – B 1 KR 27/13 R – BSGE 117, 82 = SozR 4-2500 § 109 Nr. 40, RdNr. 18; BSG, Urt. v. 26.2.2019 – B 11 AL 3/18 R – Juris, RdNr. 24).

Nach § 53 Abs. 1 SGB VI ist der Umstand der Versicherungspflicht bei Eintritt des Arbeitsunfalls für denjenigen, der eine Rente wegen Erwerbsminderung begehrt, rechtsbegründend. Die in Satz 1 Nr. 1, a.a.O., vorgesehene Ausnahme von der gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI für einen solchen Anspruch an sich erforderlichen Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten findet gemäß Satz 2, a.a.O., „nur Anwendung für Versicherte, die bei Eintritt des Arbeitsunfalls (…) versicherungspflichtig waren“. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich der Anspruchsteller auf die für ihn günstige Regelung in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI berufen.

Somit ergibt sich aus der genannten Vorschrift selbst hinreichend deutlich die Verteilung der objektiven Beweislast für Verfahren, in denen – wie hier – ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung geltend gemacht wird. Dass, wie der Kläger vorbringt, in anderem Zusammenhang – z.B. in Verfahren der Statusfeststellung oder der Geltendmachung von Beitragsforderungen – die Versicherungspflicht abhängig Beschäftigter als Grundtatbestand und die Regelungen zur Versicherungsfreiheit als Ausnahmetatbestand angesehen werden (vgl. z.B. BSG, Urt. v. 15.7.2009 – B 12 KR 14/08 R – SozR 4-2500 § 7 Nr. 1 RdNr. 22 ff.), mag für die dort maßgebliche Beweislastverteilung von Bedeutung sein. Das führt aber nicht dazu, dass im Rahmen eines Anspruchs auf Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung angenommen werden müsste, den Rentenversicherungsträger treffe die Beweislast für das Nichtbestehen von Versicherungspflicht. Dies würde dem oben bereits wiedergegebenen Ziel, das der Gesetzgeber mit der Regelung in § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI verfolgt hat, erkennbar zuwiderlaufen.

Aus demselben Grund gibt es zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass in Fällen der vorzeitigen Wartezeiterfüllung wegen eines Arbeitsunfalls eine Beweislastumkehr eintreten soll. Es stehen auch keine typischen und unverschuldeten Beweisschwierigkeiten im Raum, die im Rahmen der Beweiswürdigung angemessen zu berücksichtigen wären (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 RdNr. 3e). Vielmehr sind die Schwierigkeiten hier im Wesentlich einzelfallbezogen darauf zurückzuführen, dass der Kläger, der eine Meldung seiner Beschäftigungen im September 1999 als geringfügig und beitragsfrei (vgl. § 28a Abs. 9 i.V.m. Abs. 1 und 5 SGB IV) damals offenbar unwidersprochen hingenommen hatte, die Arbeitsverträge oder sonstigen Unterlagen über diese Beschäftigungsverhältnisse nicht aufbewahrt hat. Zudem hat er den Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung erstmals 14 Jahre nach dem fraglichen Geschehen gestellt, mithin zu einem Zeitpunkt, als die Aufbewahrungsfristen für entsprechende Unterlagen bei anderen Stellen (vgl. § 28f Abs. 1 SGB IV) längst abgelaufen waren (zu diesen Umständen s. auch Mushoff, NZS 2021, 698).

 

Entnommen aus Breithaupt, 10/2022, Nr. 115