Art. 17, 99 PAG; § 70 FamFG [analog] (Rechtsbeschwerde; Platzverweis; polizeilicher Gewahrsam; richterlich angeordneter Gewahrsam; Freiheitsentziehung)
Amtliche Leitsätze:
- Der polizeiliche Gewahrsam im Vorfeld eines richterlich angeordneten Gewahrsams nach dem PAG hat generell nur vorläufigen Charakter.
- Eine Rechtsbeschwerde nach Art. 99 Abs. 2 PAG, die sich gegen die Entscheidung des Landgerichts über die Rechtmäßigkeit eines polizeilichen Gewahrsams richtet, der zum Zweck der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam nach den Vorschriften des PAG angeordnet wurde, ist gemäß § 70 Abs. 4 FamFG analog nicht statthaft.
BayObLG, Beschluss vom 30.05.2022, 103 ZBR-PAG 1/22
Zum Sachverhalt
Die Stadt W legte mit Allgemeinverfügung vom 23.02.2021 als zuständige Kreisverwaltungsbehörde die gesamte Fußgängerzone der Stadt als zentrale Begegnungsfläche in Innenstädten fest. Danach bestand in der gesamten Fußgängerzone von W eine sogenannte „Maskenpflicht“. Gemäß § 29 Nr. 20 der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung handelt ordnungswidrig im Sinne des § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 24 Abs. 1 der Maskenpflicht nicht nachkommt.
Die Betroffene hielt sich am 17.03.2021 gegen 10.00 Uhr in der Fußgängerzone der Stadt W auf, ohne eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen. Sie trug ein Schild mit der Aufschrift „Maske ist Folter – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Völkerrecht“.
Gegen 10.10 Uhr wurde die Betroffene von PHM O aufgefordert, eine Schutzmaske anzulegen. Dieser Aufforderung kam die Betroffene nicht nach. Daraufhin erteilte ihr der Polizeibeamte einen Platzverweis. Als Reaktion auf diese polizeiliche Maßnahme meldete die Betroffene um 10.10 Uhr bei PHM O eine Spontanversammlung an. EPHK M lehnte die Betroffene wegen „Unzuverlässigkeit“ als Versammlungsleiterin ab und bot ihr mehrere Örtlichkeiten außerhalb der W Fußgängerzone für die Durchführung ihrer Versammlung an. Daraufhin zog die Betroffene ihre Versammlungsanmeldung zurück. Sie erklärte sodann mehrfach, dass sie auch in Zukunft gegen die Maskenpflicht protestieren und hierzu die W Fußgängerzone ohne Maske aufsuchen werde. Hierauf erklärte ihr EPHK M gegen 10.24 Uhr „nach telefonischer Rücksprache mit dem Amtsgericht W die Gewahrsamnahme.
Die Polizeiinspektion W beantragte daraufhin schriftlich beim Amtsgericht W die richterliche Anordnung eines längerfristigen Gewahrsams gemäß Art. 17 BayPAG für die Dauer von einer Woche. Am 17. März 2021 wurde die Betroffene in der Zeit von 13.00 Uhr bis 14.30 Uhr richterlich angehört. Sie weigerte sich zunächst auch in der Anhörung, eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen.
Nach Beratung durch den ihr als Verfahrenspfleger beigeordneten Rechtsanwalt erklärte sie, sie werde in Zukunft die W Innenstadt in dem Bereich, in dem die Maskenpflicht gelte, nicht mehr ohne Maske betreten.
Nach der Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 17.03.2021 „die durch die PI W angeordnete Freiheitsentziehung der Betroffenen“ für zulässig erklärt und deren Fortdauer bis längstens 22.03.2021 um 12.00 Uhr angeordnet. Die Betroffene wurde weiter in Gewahrsam gehalten und ist am 22.03.2021 um 12.00 Uhr aus der Justizvollzugsanstalt N entlassen worden. Gegen den Beschluss des Amtsgerichts W vom 17.03.2021 hat die Betroffene am 16.04.2021 Beschwerde eingelegt, der vom Amtsgericht nicht abgeholfen worden ist.
Mit Beschluss vom 18.01.2022 hat das Landgericht W festgestellt, dass die durch Beschluss des Amtsgerichts vom 17.03.2021 angeordnete Freiheitsentziehung bis längstens 22.03.2021 um 12.00 Uhr rechtswidrig war. Im Übrigen hat das Landgericht die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen, soweit die Gewahrsamnahme der Betroffenen „durch die Polizei am 17.03.2021 von 10.24 Uhr bis zur Vorführung am Amtsgericht W um 13.00 Uhr“ betroffen war.
Gegen den Beschluss des Landgerichts hat die Betroffene mit Schreiben ihres Anwalts am 12.02.2022 Rechtsbeschwerde zum Bayerischen Obersten Landesgericht eingelegt.
Aus den Gründen:
- …
- Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist mit Blick auf die gestellten Anträge und das in der Rechtsbeschwerdebegründung zum Ausdruck gebrachte Anfechtungsziel dahin zu verstehen, dass die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde die Feststellung der Rechtswidrigkeit ihrer polizeilichen Gewahrsamnahme am 17.03.2021 begehrt. Zusätzlich begehrt die Betroffene die Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses, soweit der polizeiliche Gewahrsam am 17.03.2021 von 10.24 Uhr bis 13.00 Uhr betroffen ist.
- Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 70 Abs. 4 FamFG analog nicht statthaft, weil sie sich gegen die Entscheidung des Landgerichts über die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Gewahrsams wendet.
Gemäß Art. 99 Abs. 2 Satz 2 PAG findet in Freiheitsentziehungssachen nach dem Polizeiaufgabengesetz als Rechtsmittel gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts die Rechtsbeschwerde nach Maßgabe der §§ 70 bis 75 FamFG statt. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde richtet sich nach § 70 FamFG. Nach dieser Bestimmung ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn das Beschwerdegericht sie aus einem der in § 70 Abs. 2 FamFG genannten Gründe zugelassen hat (§ 70 Abs. 1 FamFG), sowie darüber hinaus in Freiheitsentziehungssachen ohne Zulassung, wenn sie sich gegen den die Freiheitsentziehung anordnenden oder in den in § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG genannten Verfahren gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss richtet (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2, 3 FamFG). Demgegenüber findet nach § 70 Abs. 4 FamFG gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests die Rechtsbeschwerde nicht statt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt für das Aufenthaltsrecht Folgendes: Der Regelung des § 70 Abs. 4 FamFG unterfällt die vorläufige richterliche Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung nach § 427 FamFG i. V. m. § 62 AufenthG. Dem gleich steht die einer richterlichen Beschlussfassung vorgelagerte Möglichkeit der Behörde, einen Ausländer unter strengen Voraussetzungen für einen kurzen Zeitraum vorläufig in Gewahrsam zu nehmen, um diesen unverzüglich dem Richter vorzuführen (§ 428 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 62 Abs. 5 n. F. bzw. Abs. 4 a. F. AufenthG).
Denn nach § 428 Abs. 2 FamFG ist auch über die Anfechtung behördlich angeordneter Freiheitsentziehungen im Sinne von § 428 Abs. 1 Satz 1 FamFG „nach den Vorschriften dieses Buches“ zu entscheiden. Daraus wird deutlich, dass der gerichtliche Rechtsschutz gegen solche Maßnahmen den Regelungen folgen soll, die auf die Anfechtung gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehungen Anwendung finden. Hierzu zählt § 70 Abs. 4 FamFG (BGH, B.v. 10.06.2020 – StB 23/18 – juris Rn. 12; BGH, B.v. 09.03.2017 – V ZB 119/16 – FGPrax 2017, 184/185 Rn. 6 ff.; BGH, B.v. 12.05.2011 – V ZB 135/10 – FGPrax 2011, 253 Rn. 5).
Für die behördlich angeordnete Freiheitsentziehung zum Zweck der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam nach den Vorschriften des bayerischen Polizei und Ordnungsrechts gilt nichts anderes. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, der es insoweit rechtfertigen würde, im Hinblick auf das Rechtsmittelrecht zwischen den beiden Rechtsgebieten zu differenzieren. Vielmehr ist in der jeweils zu beurteilenden Verfahrenskonstellation der maßgebliche sachliche Grund für den Ausschluss der Rechtsbeschwerde, dass der behördliche Gewahrsam im Vorfeld der richterlichen Entscheidung generell nur vorläufigen Charakter hat (vgl. BGH, B.v. 08.02.2022 – 3 ZB 4/21 – juris Rn. 7; BGH, B.v. 10.06.2020 – StB 23/18 – juris Rn. 13; BGH, B.v. 23.05.2011 – V ZA 29/10; BeckOK FamFG/Günter, 41. Ed. 01.01.2022, FamFG § 428 Rn. 5; Keidel/Göbel, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 428 Rn. 12; MüKoFamFG/Wendtland, 3. Aufl. 2019, § 428 Rn. 10).
Nach den aufgezeigten Maßstäben ist die Rechtsbeschwerde im vorliegenden Verfahren daher nicht statthaft. Die Betroffene begehrt ausschließlich die Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme, soweit der Zeitraum des polizeilichen Gewahrsams betroffen ist. Sie richtet sich demnach ausschließlich gegen den von der Behörde angeordneten Gewahrsam im Vorfeld der gerichtlichen Entscheidung. Die Rechtsbeschwerde ist mit dieser Angriffsrichtung analog § 70 Abs. 4 FamFG nicht eröffnet und daher unzulässig.
Entnommen aus den Bayerischen Verwaltungsblättern, 22/2022, S. 790.