Rechtsprechung Bayern

Normenkontrollantrag gegen den Bebauungsplan einer Nachbargemeinde

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Dem unten vermerkten Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 29.3.2022 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Antragstellerin, eine bayerische Gemeinde, wendet sich im Normenkontrollverfahren gegen einen Bebauungsplan einer Nachbargemeinde. Das Plangebiet befindet sich südöstlich des an das Gemeindegebiet der Antragstellerin angrenzenden Ortsteils K. im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin. Es schließt nordöstlich an die K-er Straße und nordwestlich an die Bundesstraße … an, die im nördlichen Verlauf in einer Entfernung von ca. 1,3 km in die Bundesstraße … einmündet. Dieser Verkehrsknotenpunkt liegt im Gemeindegebiet der Antragstellerin.

Gegenstand der Planung ist die Festsetzung eines Gewerbegebiets. Der Antrag blieb ohne Erfolg. Dem Beschluss des VGH entnehmen wir:

1. Eine Nachbargemeinde ist im Normenkontrollverfahren antragsbefugt, wenn ein in ihrem Gemeindegebiet liegender Verkehrsknotenpunkt von den verkehrlichen Auswirkungen der Gewerbegebietsausweisung deutlich betroffen sein könnte

„Der Antrag ist zulässig. Insbesondere ist die Antragsbefugnis der Antragstellerin nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu bejahen…Eine Nachbargemeinde kann eine ihre Belange berührende Verletzung des zwischengemeindlichen Abstimmungsgebots (§ 2Abs. 2 BauGB) geltend machen, wenn die Planung einen abwägungserheblichen Belang der Nachbargemeinde berührt und hinreichend substantiiert aufgezeigt wird, dass dieser Belang bei der Abwägung möglicherweise zu kurz gekommen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26.2.1999 – 4 CN 6/98 – NVwZ 2000, 197). Allerdings vermittelt das interkommunale Abstimmungsgebot ein Abwehrrecht nur gegen unmittelbare Auswirkungen gewichtiger Art (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.8.2002[1] – 4 C 5.01 – BVerwGE 117, 25).

Nach diesen Maßstäben ist die Antragstellerin antragsbefugt, weil es nach ihrem Vorbringen möglich erscheint, dass die Antragsgegnerin die nachbargemeindlichen Belange der Antragstellerin bei der Abwägung nicht berücksichtigt hat (§ 2 Abs. 2, § 1 Abs. 7 BauGB). Insoweit hat sie hinreichend substantiiert dargelegt, möglicherweise durch den angegriffenen Bebauungsplan von unmittelbaren Auswirkungen gewichtiger Art betroffen zu sein. Denn nach dem von ihr vorgelegten Verkehrsgutachten vom 9.11.2017 samt der ergänzenden Leistungsfähigkeitsberechnung vom 2.12.2020 ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der im Gemeindegebiet der Antragstellerin liegende Verkehrsknotenpunkt…von den verkehrlichen Auswirkungen der Gewerbegebietsausweisung deutlich betroffen ist.“

2. Nach dem interkommunalen Abstimmungsgebot sind die Bauleitpläne benachbarter Gemeinden aufeinander abzustimmen

„Der Senat vermag keine Verletzung des interkommunalen Abstimmungsgebots (§ 2 Abs. 2 BauGB) zu erkennen. Demnach sind die Bauleitpläne benachbarter Gemeinden aufeinander abzustimmen. Die Vorschrift steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit § 1 Abs. 7 BauGB. Das interkommunale Abstimmungsgebot stellt eine besondere Ausprägung des Abwägungsgebots dar. Befinden sich benachbarte Gemeinden objektiv in einer Konkurrenzsituation, so darf keine von ihrer Planungshoheit rücksichtslos zum Nachteil der anderen Gebrauchmachen. § 2 Abs. 2 BauGB verleiht dem Interesse der Nachbargemeinde, vor Nachteilen bewahrt zu werden, besonderes Gewicht. Die Vorschrift verlangt einen Interessenausgleich zwischen den benachbarten Gemeinden und fordert dazu eine Koordination der gemeindlichen Belange.

Selbst wenn eine Gemeinde keine planerischen Absichten für ihr Gebiet verfolgt oder bereits umgesetzt hat, kann sie sich gegen unmittelbare Auswirkungen gewichtiger Art auf ihr Gebiet zur Wehr setzen. Eine Planung, die durch Auswirkungen gewichtiger Art gekennzeichnet ist, verstößt allerdings nicht allein deshalb gegen § 2 Abs. 2 BauGB. Auch hier gilt, dass selbst gewichtige Belange im Wege der Abwägung überwunden werden dürfen, wenn noch gewichtigere ihnen im Rang vorgehen.

Dabei unterliegt eine Gemeinde, die ihre eigenen Vorstellungen selbst um den Preis von gewichtigen Auswirkungen auf die Nachbargemeinde durchsetzen möchte, einemerhöhten Rechtfertigungszwang in Gestalt der Pflicht zur formellen und materiellen Abstimmung (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.8.2002 – 4 C 5.01 – BVerwGE 117, 25; Beschluss vom 14.4.2010[2] – 4 B 78.09 – DVBl 2010, 839 Rn. 45).“

3. Ein bereits gegebener Ausbaubedarf eines Verkehrsknotenpunkts, der durch die Planung der Nachbargemeinde allenfalls geringfügig mehr in Anspruch genommen wird, löst das interkommunale Abstimmungsgebot nicht aus

„Die Antragstellerin meint, die streitgegenständliche Gewerbegebietsausweisung führe zu einer verkehrlichen Überlastung des in ihrem Gemeindegebiet gelegenen Verkehrsknotenpunkts …, sodass eine inhaltliche Abstimmung zur Ertüchtigung dieses Knotens durch zusätzliche bauliche Maßnahmen hätte stattfinden müssen.

Die von ihr vorgelegten Verkehrsuntersuchungen vom 9.11.2017 bzw. vom 2.12.2020 hätten ergeben, dass die der Untersuchung im Bebauungsplanverfahren zu Grunde liegenden Ansätze nicht richtig seien. Vielmehr sei festzustellen, dass die Leistungsfähigkeit des maßgeblichen Knotens, über den das Gewerbegebiet letztendlich angebunden sei, hinsichtlich der Leistungsfähigkeit deutlich verschlechtert werde. Zu bestimmten Tageszeiten komme es sogar zu einer Überlastung dieses Verkehrsknotenpunkts. Dies habe gravierende Auswirkungen auf das gesamte Gemeindegebiet der Antragstellerin.

Tatsächlich hat die Antragsgegnerin die möglichen Auswirkungen des zu erwartenden planungsbedingten Verkehrs auf das Gebiet der Antragstellerin ordnungsgemäß ermittelt und bewertet. Die von ihr in Auftrag gegebene Verkehrsuntersuchung vom September 2020 beschäftigt sich … in einem eigenen Abschnitt mit den verkehrlichen Auswirkungen auf das umgebende Straßennetz. Danach besteht bereits jetzt eine Überlastung des fraglichen Verkehrsknotenpunkts (Qualitätsstufe F: Die Wartezeiten sind für die jeweils betroffenen Verkehrsteilnehmer sehr lang/Auf dem betrachteten Fahrstreifen wird die Kapazität im Kfz-Verkehr überschritten/Der Rückstau wächst stetig. Die Kraftfahrzeuge müssen bis zur Weiterfahrt mehrfach vorrücken).

Ein Ausbaubedarf besteht damit bereits unabhängig von der streitgegenständlichen Planung. Diese wirkt sich aufgrund der mit ihr verbundenen Erhöhung von maximal 15 Kfz pro Stunde pro Verkehrsstrom nicht relevant auf den Knotenpunkt aus … Eine Zusatzbelastung aber von 15 Kfz pro Verkehrsstrom pro Stunde für den bereits ohnehin überlasteten Verkehrsknotenpunkt, bei dem unabhängig von der geplanten Maßnahme Ausbaubedarf besteht, kann nicht als Auswirkung gewichtiger Art auf das Gemeindegebiet der Antragstellerin angesehen werden.“

4. Zulässigkeit der für das Gewerbegebiet festgesetzten Lärmkontingente

„Entgegen den Ausführungen in der Antragsschrift ist die im geplanten Gewerbegebiet vorgenommene Lärmkontingentierung zulässig. Sie erfasst das gesamte Gebiet und wurde in der Form vorgenommen, dass die zulässigen Emissionskontingente in den insoweit festgesetzten zwei Teilgebieten LEK 65 dB(A) tags und 50 db(A) nachts bzw. 65 dB(A) tags und 52 db(A) nachts betragen. Diese Vorgehensweise ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich durch § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BauNVO gedeckt, weil einzelne Teilgebiete (hier zwei) mit verschieden hohen Emissionskontingenten vorgesehen wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom7.12.2017[3] – 4 CN7/16 – juris).

Maßgeblich ist daher, ob die Emissionskontingente bei typisierender Betrachtung ausreichend hoch sind, um die nach § 8 BauNVO zulässigen Nutzungen zu verwirklichen. Der zulässige Störgrad wird maßgeblich durch § 8 Abs. 1 BauNVO bestimmt, wonach das Gewerbegebiet vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben dient. Damit ist zugleich der Störgrad bestimmt, den die sonstigen nach § 8 Abs. 2 BauNVO zulässigen Nutzungen hinzunehmen haben und selbst nicht überschreiten dürfen. Es müssen daher auf einer hinreichend großen Fläche Lärmemissionskontingente festgesetzt sein, die auch für das im Gewerbegebiet typische produzierende und verarbeitende Gewerbe und das Handwerk ausreichend sind (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2021, § 8 BauNVO Rn. 8, 11).

Die Gemeinde darf also die interne Gliederung nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BauNVO nicht nutzen, um das Gewerbegebiet etwa auf mischgebietstypische Gewerbebetriebe zu beschränken (vgl. OVG Münster, Urteil vom 11.10.2018 – 7 D 99/17.NE – juris). Die Emissionskontingente müssen aber nicht so hoch sein, dass sie für jeden denkbaren Gewerbebetrieb ausreichen, der ,gerade noch‘ in einem Gewerbegebiet zulässig erscheinen mag (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.6.2021 – 4 CN 8/19 – juris).

In Literatur und Rechtsprechung wird als Anhaltspunkt für die Bestimmung eines … Emissionskontingents die Regelung in Nr. 5.2.3 der DIN 18005-1 erwogen … Diese sieht dann, wenn die Art der in einem ohne Emissionsbegrenzung geplanten Gewerbegebiet künftig betriebenen Anlagen nicht bekannt ist, für die Berechnung der in seiner Umgebung zu erwartenden Lärmimmissionen den Ansatz einer Flächenschallquelle mit flächenbezogenen Schallleistungspegeln von 60 dB(A) tags und nachts vor. Für die Tagzeit hält der Senat dies für angemessen.

Für die Nachtzeit dagegen ist im hier zu entscheidenden Fall ein gleich hoher Schallleistungspegel nicht erforderlich. In Gewerbegebieten wird zwar teilweise auch zur Nachtzeit gearbeitet. Das heißt aber nicht, dass dies in gleicher Lautstärke wie am Tag geschehen darf. Zwar soll nachts in Gewerbegebieten grundsätzlich nicht gewohnt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.4.1992 – 4 C 43/89 – BVerwGE 90, 140/145).

Von den nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO zulässigen Gewerbebetrieben aller Art sind indes auch Beherbergungsbetriebe umfasst, sofern den Gästen – etwa bei größeren Hotels mit regelmäßig kurzer Verweildauer oder anderen kerngebietstypischen Beherbergungsstätten – die typischen Belästigungen eines Gewerbegebiets zugemutet werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.4.1992 – 4 C 43/89 – BVerwGE 90, 140, 146). Das setzt voraus, dass im Gewerbegebiet nachts typischerweise weniger Lärm verursacht wird als tagsüber.

Auch außerhalb des § 8 BauNVO sehen verschiedene Regelwerke unterschiedlicher Rechtsnatur für Nutzungen im Gewerbegebiet nachts geringere Lärmimmissionswerte vor (vgl. etwa Nr. 6.1 Buchst. b) der TA Lärm, § 2 Abs. 1 Nr. 4 der 16. BImSchV, § 2 Abs. 2 Nr. 1 der 18. BImSchV oder Nr. 1.1 Beiblatt 1 zur DIN 18005-1). Nicht mit § 8 BauNVO vereinbar wären nur Lärmkontingente, die so niedrig bemessen sind, dass ein Nachtbetrieb nicht ermöglicht würde (vgl. ebenso OVG Münster, Urteil vom 2.3.2020 – 10 A 1136/18 – juris Rn. 65; BayVGH, Urteil vom 12.8.2019 – 9 N 17.1046 – juris Rn. 28).

§ 1 Abs. 4 Satz 2 BauNVO ermöglicht neben der eben erörterten internen auch eine externe Gliederung: Gliederungen nach der Eigenschaft von Anlagen können auch für mehrere Gewerbegebiete im Verhältnis zueinander getroffen werden. Auch eine solche baugebietsübergreifende Gliederung setzt voraus, dass neben dem emissionskontingentierten Gewerbegebiet noch (mindestens) ein Gewerbegebiet als Ergänzungsgebiet vorhanden ist, in dem nur solche Emissionsbeschränkungen gelten, dass grundsätzlich alle im Rahmen von § 8 Abs. 1 BauNVO zulässigen Gewerbebetriebe ermöglicht werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9.3.2015 – 4 BN 26/14 – BauR 2015, 943/94[4].

Der gebietsübergreifenden Gliederung muss auch ein darauf gerichteter planerischer Wille der Gemeinde zugrunde liegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.12.2017 – 4 CN 7/16 – juris). Die Antragsgegnerin hat in der Begründung des Bebauungsplans Nr. … einen insoweit ausreichenden Bezug unter anderem zum Bebauungsplan Nr. 10 hergestellt und damit ihren auf die Gliederung gerichteten planerischen Willen dokumentiert (vergleiche Begründung des Bebauungsplans …, Nr. 8d).

Der Bebauungsplan Nr. 10 enthält zwar flächenbezogene Schallleistungspegel. Diese sind mit 66 dB(A) tags und 61 dB(A) nachts bzw. 66 dB(A) tags und 58 dB(A) nachts nach den vorstehenden Ausführungen in jedem Fall ausreichend hoch bestimmt, sodass dort nicht erheblich belästigende Gewerbebetriebe jedenfalls grundsätzlich zulässig sind. So wird im hier zu entscheidenden Fall auch bei Anwendung des § 1 Abs. 4 BauNVO die allgemeine Zweckbestimmung des Gewerbegebietes gewahrt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.5.1996 – 4 NB 16/96 – Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 22 S. 7)“.

 

Entnommen aus der Fundstelle Bayern 5/2023, Rn. 55.

[1] FStBay Randnummer 44/2003 und 60/2003.

[2] FStBay Randnummer 304/2011

[3] FStBay Randnummer 213/2018.

[4] FStBay Randnummer 5/2016.