Dem unten vermerkten Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 9.1.2024 lag folgender Sachverhalt zu Grunde:
Der Antragsteller, ein Markt und Standortgemeinde, wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Asylbewerberunterkunft ohne Ersetzung seines gemeindlichen Einvernehmens.
Das Landratsamt beantragte für den Bauherrn die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Asylbewerberunterkunft. Das Baugrundstück liegt in einem durch qualifizierten Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet des Antragstellers.
Das Bauvorhaben soll im Wege einer Zeltkonstruktion ausgeführt werden, für die als Dachhaut bzw. als Dämmschutz eine doppelschalige Thermoplane mit Kondenswasserschutz verwendet werden soll.
Der Antragsteller wies den Antragsgegner, vertreten durch das Landratsamt, darauf hin, dass durch die wohnähnliche Nutzung Einschränkungen für die benachbarten Firmen befürchtet würden. Aufgrund der vorgesehenen Zeltkonstruktion seien Immissionen zu erwarten, die eine auch nur halbwegs angemessene Wohnqualität unmöglich erscheinen ließen. Die bislang mit dem Bauantrag vorgelegten Unterlagen ließen eine Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen nicht zu. Es werde um weitere Stellungnahme gebeten.
Demgegenüber stellte sich der Antragsgegner auf den Standpunkt, dass möglicherweise auftretende gewerbliche Nachteile für die Grundstücksnachbarn im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen seien. Anschließend verweigerte der Antragsteller das gemeindliche Einvernehmen. Dennoch genehmigte der Antragsgegner die Errichtung einer Notunterkunft für Asylbewerber auf dem streitgegenständlichen Grundstück. Das gemeindliche Einvernehmen gelte als erteilt, da es nicht innerhalb eines Monats nach Zugang des Bauantrags verweigert worden sei. Nachbarschützende Belange würden durch das Vorhaben nicht beeinträchtigt.
Eine Begründung für letztere Einschätzung fehlt.
Der Antragsteller erhob Klage und beantragte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung derselben. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab. In der Beschwerdeinstanz obsiegte dagegen der Antragsteller. Dem Beschluss des VGH ist Folgendes zu entnehmen:
1. Erforderlichkeit des Einvernehmens der Gemeinde, wenn eine Ausnahme von Festsetzungen des Bebauungsplans zugelassen wird
„Das Einvernehmen des Antragstellers war hier erforderlich, weil es sich bei dem Vorhaben um eine Unterkunft für Flüchtlinge in einem Gewerbegebiet handelt und damit nach § 246 Abs. 11 BauGB die Vorschrift des § 31 Abs. 1 BauGB mit der Maßgabe gilt, dass Anlagen für soziale Zwecke, die der Unterbringung und weiteren Versorgung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden dienen, in Baugebieten nach §§ 2 bis 8 BauNVO bis zum Ablauf des 31.12.2027 in der Regel zugelassen werden sollen. Die Anwendung von § 246 Abs. 11 BauGB steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass dringend benötigte Unterkünfte im Gebiet der Gemeinde, in der sie entstehen sollen, nicht oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden können (§ 246 Abs. 13a BauGB). Ohne dass es im hier zu entscheidenden Verfahren darauf ankäme, ist aber für den weiteren Fortgang des Verfahrens darauf hinzuweisen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 246 Abs. 13a BauGB offenbar bislang keiner ausreichenden Prüfung unterzogen wurden.“
2. Beginn der Monatsfrist nach § 246 Abs. 15 BauGB für die Fiktion des gemeindlichen Einvernehmens
„Die Ein-Monatsfrist nach § 246 Abs. 15 BauGB ist nicht mit Einreichen des Bauantrags beim Antragsteller am 21.6.2023 in Gang gesetzt worden (§ 36 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BauGB i.V.m. Art. 64 Abs. 1 BayBO). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die Einvernehmensfrist nur dann ausgelöst, wenn und sobald der Bauantrag der Gemeinde eine hinreichende und abschließende planungsrechtliche Beurteilung des Bauvorhabens ermöglicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.8.2020 – 4 C 1.19 – juris Rn. 16; Urteil vom 16.9.2004 – 4 C 7.03 – juris Rn. 21). Daran fehlt es hier.
§ 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO bleibt in den Fällen des § 246 Abs. 11 BauGB anwendbar …, sodass das nachbarschützende Rücksichtnahmegebot auch im hier zu entscheidenden Fall zu prüfen ist. Nach allgemeinen Grundsätzen hat sich die bei Prüfung des Rücksichtnahmegebots geforderte Interessenabwägung am Kriterium der Unzumutbarkeit auszurichten. Maßgeblich ist, ob die zugelassene Nutzung zu einer – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen – unzumutbaren Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeiten anderer Grundstücke führt. In Gewerbe- und Industriegebieten wird das nachbarliche Interesse im Regelfall darin bestehen, durch eine wohnähnliche Nutzung – wie sie in Unterkünften für Asylbewerber stattfindet – nicht in der Gewerbeausübung eingeschränkt zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe der Genehmigungsbehörden, sicherzustellen, dass Flüchtlinge keinem unzulässigen Lärm ausgesetzt werden (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger/Blechschmidt, 151. EL August 2023, BauGB § 246 Rn. 59a).
Es liegt auf der Hand, dass die Unterbringung von Flüchtlingen in einem Gewerbegebiet, zumal – wie sich hier aus allgemein zugänglichen Quellen wie Google Maps und BayernAtlas ergibt – in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem metallverarbeitenden Betrieb, in einer Zeltkonstruktion zu einer deutlichen Überschreitung der für eine wohnähnliche Nutzung einschlägigen Immissionsgrenzwerte führen kann. Es bedarf keiner weiteren Ausführung, dass sich aus der bloßen Beschreibung der Verwendung einer doppelschaligen Thermoplane als Dämmmaterial im Bauantrag ohne weitere Unterlagen, etwa eines immissionsschutzrechtlichen Gutachtens oder wenigstens einer immissionsschutzrechtlichen Stellungnahme der zuständigen Fachstelle der Genehmigungsbehörde, weder für die Gemeinde noch für die Genehmigungsbehörde beurteilen lässt, ob im Zeltinneren die einschlägigen Grenzwerte eingehalten oder jedenfalls nur in einem vertretbaren Maß überschritten werden.“
3. Obliegenheit der Gemeinde, bei unvollständigen Bauunterlagen vor Ablauf eines Monats auf deren Vervollständigung hinzuwirken
„Das Recht auf Beteiligung im Genehmigungsverfahren, das der Gesetzgeber der Gemeinde zum Schutz ihrer Planungshoheit einräumt, ist weiter mit der Obliegenheit verbunden, im Rahmen der Möglichkeiten, die ihr das Landesrecht eröffnet, gegenüber der Genehmigungsbehörde auf die Vervollständigung des Genehmigungsantrages hinzuwirken. Kommt die Gemeinde dieser Mitwirkungslast nicht innerhalb von einem Monat nach der Einreichung des Antrags bei ihr nach, gilt ihr Einvernehmen nach § 246 Abs. 15 BauGB als erteilt (jeweils zur Zwei- Monats-Frist nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB: BVerwG, Urteil vom 27.8.2020 – 4 C 1.19 – juris Rn. 16; Urteil vom 16.9.2004 – 4 C 7.03 – juris Rn. 18; BayVGH, Beschluss vom 29.5.2017 – 22 ZB 17.529 – juris Rn. 14, Beschluss vom 25.8.2015 – 22 CS 15.1683 – juris Rn. 33).
Die Anforderungen an die Erfüllung dieser Obliegenheit dürfen indes nicht überspannt werden, zumal § 246 Abs. 15 BauGB die Frist für den Eintritt der Fiktionswirkung auf nur einen Monat verkürzt, was vor dem Hintergrund der in der Regel notwendigen Befassung des Bauausschusses bzw. des Gemeinderats sehr knapp bemessen ist und an der Grenze des rechtlich überhaupt Zulässigen liegen dürfte. Hier hat der Antragsteller in ausreichender Form darauf hingewiesen, dass aufgrund der geplanten Bauausführung Bedenken bestünden, ob im Hinblick auf etwa auftretende Immissionen für die Untergebrachten gesunde Wohnverhältnisse gewährleistet werden können und ob es nicht zu einer Einschränkung des Betriebs benachbarter Gewerbetreibender kommen könne. (Auch) insoweit werde um ergänzende Stellungnahme gebeten.
Damit hat der Antragsteller seine Obliegenheit, auf Ergänzung der Bauunterlagen zu drängen, ausreichend wahrgenommen. Dem Landratsamt als Genehmigungsbehörde müssen die immissionsschutzrechtliche Problematik der Zulassung wohnähnlicher Nutzungen im Gewerbegebiet und die Möglichkeiten zu ihrer Prüfung bekannt sein, sodass weitergehende Ausführungen der Standortgemeinde (zunächst) nicht veranlasst waren.“
4. Die Erteilung einer Baugenehmigung ohne Ersetzung oder Fiktion des gemeindlichen Einvernehmens führt ohne weitere Prüfung der Rechtmäßigkeit des Vorhabens zu ihrer Aufhebung
„Nachdem das gemeindliche Einvernehmen damit nicht als ersetzt gilt und – da die Genehmigungsbehörde zu Unrecht vom Eintritt der Einvernehmensfiktion ausgegangen ist – auch nicht ersetzt wurde, wurde die Baugenehmigung ohne das erforderliche gemeindliche Einvernehmen erteilt. Allein die Verletzung oder Missachtung des gesetzlich gewährleisteten Rechts der Gemeinde auf Einvernehmen führt zur Aufhebung der Baugenehmigung; einer materiell-rechtlichen Überprüfung der Rechtslage bedarf es nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.8.2008 – 4 B 25.08 – juris; Beschluss vom 25.8.2014 – 4 B 20.14 – juris; Urteil vom 26.3.2015 – 4 C 1.14 – juris).“
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 9.1.2024 – 2 CS 23.2010
Beitrag entnommen aus Die Fundstelle Bayern 13/2024, Rn. 147.