Art. 13, 16a, 24, 64 BV; Art. 49 VfGHG (Organstreit; [un]zulässiger Verfahrensgegenstand [Unterlassung, Widerruf von Äußerungen; vorbeugender Rechtsschutz]; Beteiligtenfähigkeit; Geschäftsordnung [des Bayerischen Landtages] [nicht] als Prüfungsmaßstab; Möglichkeit der Prozessstandschaft [verneint]; substanziierte Behauptung der Verletzung in eigenen Rechten [verneint]; Recht auf Chancengleichheit; verfassungsimmanente Schranken; Zutritts- und Anhörungsrecht der Staatsregierung; Neutralitätspflicht)
Amtliche Leitsätze:
1. Die Geschäftsordnung für den Bayerischen Landtag (BayLTGeschO) ist kein eigenständiger Prüfungsmaßstab im Organstreitverfahren nach Art. 64 BV, Art. 49 Abs. 1 VfGHG.
2. Die Möglichkeit einer Prozessstandschaft sieht das bayerische Verfassungsprozessrecht im Organstreit nicht vor. Fraktionen und Abgeordnete können in diesem Verfahren nur eigene verfassungsmäßige Rechte aus dem innerparlamentarischen Bereich verfolgen.
3. Das von Art. 24 Abs. 2 BV garantierte Zutritts- und Anhörungsrecht der Staatsregierung zieht den Rechten der Abgeordneten aus Art. 13 Abs. 2, Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 BV von vornherein Grenzen. Ein Recht der Abgeordneten oder Fraktionen, das es der Staatsregierung verböte, sich zu ihren Anträgen und sonstigen Handlungen zu äußern, kennt die Verfassung auch im Verfahren zur Aufstellung des Haushaltsplans und Verabschiedung des Haushaltsgesetzes nicht.
4. An die Stelle der Verpflichtung der Staatsregierung, gegenüber den Abgeordneten und Fraktionen im Hinblick auf deren Parlamentsarbeit Neutralität zu wahren, tritt im Verfahren der Gesetzgebung ein Objektivitäts- oder Sachlichkeitsgebot.
BayVerfGH, Entscheidung vom 18.07.2024, Vf. 41-IVa-22
Zum Sachverhalt:
Die Antragstellerin zu 1, die AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag, sowie die Antragsteller zu 2 und 3, zwei dieser Fraktion angehörende Abgeordnete, wenden sich in einem Organstreitverfahren gegen ein Schreiben des Leiters des Haushaltsreferats des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie (Antragsgegner zu 2; im Folgenden auch: Wirtschaftsministerium) vom 15. Februar 2022, das an das Büro des Ausschusses für Staatshaushalt und Finanzfragen (im Folgenden auch: Haushaltsausschuss) im Bayerischen Landtag zur Vorbereitung der Sitzung des Haushaltsausschusses am 17. und 18. Februar 2022 gerichtet war. Sie sehen durch das Schreiben ihre Rechte aus Art. 13 Abs. 2, Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 BV verletzt.
Zur Vorbereitung der Sitzung des Haushaltsausschusses am 18. Februar 2022, bei der der Entwurf des Haushaltsplans 2022 (Einzelplan 07/StMWi) beraten werden sollte, bat das Ausschussbüro den Antragsgegner zu 2 um eine Übersicht, inwieweit sich die Zusammenfassung von insgesamt 130 Änderungsanträgen zu Beratungsschwerpunkten anbiete. Am 15. Februar 2022 übermittelte der Leiter des Haushaltsreferats des Antragsgegners zu 2 die angeforderte Übersicht von Vorschlägen an das Büro des Haushaltsausschusses. Die Übersicht war in Tabellenform verfasst. Sie enthielt in der linken Spalte jeweils Vorschläge für Zusammenfassungen und in der rechten Spalte jeweils eine kurze, stichwortartige Erläuterung des betroffenen Vorschlags. Einige Vorschläge zur Zusammenfassung von durch die Antragstellerin zu 1 eingebrachten Änderungsanträgen wurden wie folgt erläutert:
Zur Zeile 3 der Übersicht: „Mehr oder eher weniger begründete Anträge der AfD auf Mittelanhebungen im EpI. 07 unter Gegenfinanzierung aus EpI 03/Asyl: allein deshalb abzulehnen“ …
Zur Zeile 14 der Übersicht: „Ansatzkürzungen der AfD im Epl. 07 zur Gegenfinanzierung von Ausgaben mit nicht substanziierter Begründung“ …
Zur Zeile 19 der Übersicht: „Vollzug energier. Vorschriften (AfD Streichung – gegebenenfalls schon oben in „Streichliste“ AfD erledigt; GRÜ Ansatzanhebung)“
Die Übersicht wurde am 16. Februar 2022 vom Ausschussbüro unverändert an sämtliche Mitglieder des Haushaltsausschusses übermittelt. Auf die Beschwerde der Antragstellerin zu 1 an das Büro des Haushaltsausschusses erklärte dieses, dass die Vorlagen für die Zusammenfassung der Beratungsschwerpunkte von der Staatsregierung (Antragsgegnerin zu 1) kämen und weder kommentiert noch überprüft würden. In der Ausschusssitzung am 18. Februar 2022 entschuldigte sich der Ausschussvorsitzende gegenüber der AfD-Fraktion für den Versand der Erläuterungen. Der Haushaltsausschuss empfahl die Ablehnung der Anträge der AfD-Fraktion sowie der anderen Oppositionsfraktionen. Das Plenum des Landtags lehnte die Anträge in seiner Sitzung vom 6. April 2022 ab.
Mit Schreiben vom 2. März 2022 forderte die Antragstellerin zu 1 die Staatsregierung auf, binnen einer Woche öffentlich zu erklären, dass die „Bewertungen beziehungsweise Beschlussempfehlungen des Wirtschaftsministeriums“ nichtig seien und nicht beachtet werden dürften, dass keine pauschale Ablehnung von AfD-Anträgen empfohlen werde und dass die „Beschlussempfehlungen“ verfassungswidrig seien und insbesondere einen Verstoß gegen das Budgetrecht des Parlaments und die Neutralitätspflicht der Verwaltung darstellten. Mit E-Mail vom 17. März 2022 versandte der Antragsgegner zu 2 ein Antwortschreiben der Amtschefin an die Antragstellerin zu 1 sowie an einen ihrer Abgeordneten.
Darin brachte sie ihr Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck und betonte, dass eine unveränderte Weiterleitung der als Arbeitshilfe gedachten Unterlagen an die Fraktionen seitens des Antragsgegners zu 2 nicht intendiert gewesen sei und dass jedenfalls durch die unverbindlichen Anmerkungen des Antragsgegners zu 2 weder das Budgetrecht des Parlaments noch das staatliche Neutralitätsgebot verletzt worden seien.
Mit Schriftsatz vom 19. Juni 2022 stellten die Antragsteller beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof einen Antrag gemäß Art. 64 BV, Art. 49 VfGHG. Sie beantragen, 1. festzustellen, dass die Antragsgegner durch die Beschlussempfehlung der Antragsgegnerin zu 2) vom 16. Februar 2022 für die Sitzung des Haushaltsausschusses am 17. und 18. Februar 2022 hinsichtlich der Beratungsschwerpunkte im Einzelplan 07 die Antragstellerin in ihren Rechten aus Art. 13 Abs. 2 BV, Art. 16a Abs. 1 und Art. 16a Abs. 2 Satz 1 BV verletzen, 2. den Antragsgegnern aufzugeben, die Beschlussempfehlung vom 16. Februar 2022 gegenüber dem Ausschuss für Staatshaushalt und Finanzfragen sowie dem Bayerischen Landtag zu widerrufen und solche künftig zu unterlassen.
Hilfsweise […] 1. festzustellen, dass die Antragsgegnerin zu 2) durch ihr Beschlussempfehlung vom 16. Februar 2022 für die Sitzung des Haushaltsausschusses am 17. und 18. Februar 2022 hinsichtlich der Beratungsschwerpunkte im Einzelplan 07 die Antragsteller in ihren Rechten aus Art. 13 Abs. 2 BV, Art. 16a Abs. 1 und Art. 16a Abs. 2 Satz 1 BV verletzt, 2. der Antragsgegnerin zu 2) aufzugeben, die Beschlussempfehlung vom 16. Februar 2022 gegenüber dem Ausschuss für Staatshaushalt und Finanzfragen sowie dem Bayerischen Landtag zu widerrufen und solche künftig zu unterlassen.
Beitrag entnommen aus Bayerische Verwaltungsblätter 22/2024, S. 769.